Würde des Menschen

Fragen

Bevor Du unten weiterliest, nimm Dir Zeit für die einführenden Aufgaben.

Aufgabe 1:
a) Was meinst Du: Was ist das „Menschenwürde“ – Würde des Menschen?
b) Hat jeder Mensch die gleiche Würde?
Dazu kreuze erst ganz spontan alle Fragen bzw. Aussagen an, denen Du zustimmst. (Wenn Du es Dir nicht ausgedruckt hast: Statt ankreuzen, schreibe Dir die Nummern auf.)
c) Dann in einem zweiten Schritt gehe alles noch einmal langsam durch: Stimmst Du dem, was Du vorher zustimmend angekreuzt hast, auch nach Deinem Nachdenken noch zu? Notiere: Unter welchem Thema hat sich etwas verändert?

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Welches Menschen?:

  1. Sind zum Beispiel in China, dem Iran und den USA Kapitalverbrecher unantastbar (Todesstrafe)
  2. Ist die Würde Inhaftierter gewahrt?
  3. Ist die Würde Behinderter unantastbar?
  4. Ist für unsere Gesellschaft die Würde der Noch-Nichtgeborenen unantastbar?
  5. Ab wann beginnt der Mensch, dass seine Würde unantastbar wird? Seit seiner Zeugung, seinem 4. Monat, mit der Geburt, mit 6 Jahren, mit 12?
  6. Hat ein gesunder Mensch mehr Würde als ein Kranker, ein junger Mensch mehr als ein Senior?
  7. Entspricht es der Würde, gegenwärtige Menschen um der erhofften guten Zukunft Willen zu benachteiligen – oder umgekehrt: die kommenden Generationen um der gegenwärtigen Generation Willen zu benachteiligen?
  8. Gibt es Beispiele, in denen die Würde des jeweiligen Menschen gegenüber der Würde eines anderen zurückstehen muss? (Darf ein Verbrecher ent-würdigt werden, um ein von ihm bedrohtes Menschenleben zu schützen?)
  9. Hat der Einfluss-Reiche mehr Würde als der No-Name – oder der No-Name mehr Würde als der Einfluss-Reiche?
  10. Ist meine Würde wichtiger als die Würde des anderen? (Darf einer auf Kosten des anderen leben – überleben wollen?)
  11. Ist die Entscheidung dafür, ob ein Mensch Würde hat, von der jeweiligen Gruppe abhängig, die das Sagen hat – oder ist sie unabhängig von zeitbedingten Mehrheiten – eine eigene Größe?
  12. Ist der Mensch würde-los, weil er sich gegenüber dem Umgang mit Tieren und seinesgleichen disqualifiziert hat? Ist jeder Mensch würde-los, der Tiere nicht achtet?
  13. Ist die Würde auf „andere“ Tiere (Menschenaffen) auszuweiten?
  14. Hat jedes Lebewesen – aufgrund der Evolution – gleiche Würde?
  15. Gibt es feste Maßstäbe und Wertungen von Menschenwürde, Prinzipien für Menschenwürde oder gelten Einzelfallregelungen?
  16. Wer gibt dem Menschen die Würde?

Aufgabe 2a:
Was bedeutet die Aussage des Grundgesetzes:

Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Aufgabe 2b:
Um das ein wenig besser verstehen zu können, muss man auch die folgenden Artikel lesen: https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01
Was wird in den folgenden Artikeln angesprochen? Was gehört zur Würde dazu? Zähle schriftlich auf: Artikel 2…; Artikel 3…; …

Würde des Menschen

Dass wir von der Würde des Menschen sprechen, ist nicht selbstverständlich. Es hat einen langen Prozess in der Menschheitsgeschichte benötigt, in der sich das, was unter Würde zu verstehen ist, langsam herausgebildet hat. Dieser Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen, wenn man zum Beispiel daran denkt, dass es noch immer Sklaverei gibt.

Ein paar Eckpfeiler seien genannt, die für die Argumentation der Würde des Menschen eine große Rolle spielten:

  1. Im nichtjüdischen Bereich hatte der Mensch Würde, der würdevoll ist; das heißt, in der Gesellschaft Ansehen hat und sich entsprechend wie die jeweilige Zeit es vorgab, würdevoll verhält. So zum Beispiel einer, der sich selbst beherrschen kann, der den Platz in der Gesellschaft einnimmt, der ihm zugewiesen wurde. Langsam kam auch der Gedanke auf, dass alle Würde haben, weil sie Menschen sind und Verstand haben. Die Natur gibt vor (Naturrecht), dass Menschen Würde haben (Marcus Tullius Cicero: 106-43 vor Christus). Damit wurde aber gleichzeitig auch argumentiert: Sklaven haben von Natur aus keine Würde.
  2. Im ersten Schöpfungsbericht der Bibel (Genesis 1) steht, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Das bedeutet nicht, dass der Mensch so aussieht wie Gott, sondern dass Gott dem Menschen von seinem Wesen (Wesenswürde) und seinem Handeln (Gestaltungswürde) her Würde gegeben hat. Das gilt für Frau und Mann, gilt für Herrscher wie Untertanen. In der Zeit, als der Text geschrieben wurde, ca. 600 vor Christus, waren die Herrscher Söhne der Götter, also besonders privilegiert. Der jüdische Text sagt: So ist es nicht – jeder Mensch ist Ebenbild Gottes.
  3. Im zweiten Schöpfungsbericht Genesis 2 (ca. 1000 vor Christus) steht, dass Gott den Menschen durch seinen Atem/Geist belebt hat. Das bedeutet: jeder Mensch hat von Gott den Geist bekommen, darum lebt er.
  4. Jesus von Nazareth (ca. 5v.Chr-30 n.Chr.) sagte, dass Menschen in Gottes Reich kommen werden. In diesem Reich gibt es Schalom (Friede, Wohlergehen, Gerechtigkeit, Gemeinschaft usw.). Menschen sollen miteinander schon entsprechend umgehen. Das heißt: Man muss die Würde des Menschen achten.
  5. Das nächste immer wieder herangezogene Argument: Gott wurde in Jesus Christus Mensch. Das bedeutet, dass der Mensch als Mensch aufgewertet wird. Nicht darum, weil er irgendwas besonderes leistet, hierarchisch höher steht als andere. Der Mensch als Mensch ist wichtig (Wesenswürde), nicht darum, weil er etwas Besonderes kann (Gestaltungswürde), sondern weil Gott den Menschen groß macht.
  6. Paulus von Tarsus (ca. 10-64) spricht davon, dass im Glauben an Jesus Christus die Unterschiede zwischen Menschen nicht mehr zählen: zwischen Arme und Reiche, Sklaven und Herren, Männer und Frauen. Und das hat sich auch in der christlichen Kirche widerzuspiegeln.
  7. Der Bischof Ambrosius von Mailand (339-397) hat erniedrigten Menschen gesagt: Jesus Christus wurde bis hin zur Folter erniedrigt und hingerichtet. Darum haben erniedrigte Menschen Würde – sie dürfen wissen, dass sie Würde haben, auch wenn Menschen sie entwürdigen. Gott gibt ihnen in Jesus Christus Würde. Anders gesagt: Jesus ist für alle gestorben – das nennt man Rechtfertigungslehre – darum haben alle Würde. Seit dieser Zeit ist auch das Wort für „Würde“ wichtig geworden: dignitas.
  8. Mit Blick auf die Würde und Rechte der Frauen wurde auch immer wieder darauf hingewiesen, wie respektvoll Jesus Christus mit Frauen umgegangen ist.

Aufgabe 3:
(a) Male eine Mindmap mit den wichtigsten Stichpunkten der jüdischen und christlichen Begründung von Menschenwürde.
(b) Formuliere: Was ist der Unterschied zwischen Wesenswürde und Gestaltungswürde?
(c) Hat aus Deiner Perspektive der Mensch eher Wesenswürde oder eher Gestaltungswürde oder beides?
(d) Was wäre wenn nur Gestaltungswürde zählen würde? Denke dabei an alte, kranke und behinderte Menschen – und denke daran: Wer würde bestimmen, angesichts welcher „Gestaltung“ Menschen Würde / Nicht-Würde haben?

Diese Argumente wurden dann im Mittealter bis in die Neuzeit hinein immer wieder als Begründung aufgenommen. Dann versuchte sich die Philosophie von dem christlichen Glauben zu lösen. Dass alle Menschen Würde haben, wird beibehalten, wird aber ohne Blick auf die Religion begründet.

  1. Wesentlich wurde Immanuel Kant (1724-1804) Die Autonomie der Vernunft des Menschen ist Grund der Würde. Der Mensch darf andere nicht für seine Wünsche benutzen. Anders gesagt: Der Mensch darf den anderen nicht als Mittel für seine Zwecke verwenden. Würde ist absolut, das heißt: dem ist so – das kann nicht hinterfragt werden. Die Frage ist allerdings, wenn Kant die Vernunft so sehr hervorhebt, wieweit Würde bei Kant auch für die geistig Behinderten gilt, also für Menschen, die nicht die Vernunft einsetzen können. Während er in der Moralphilosophie eher Behinderte ausschließt, werden sie in der Metaphysik der Sitten eher eingeschlossen. Eine mögliche Antwort: In jedem Menschen ist die Vernunft unvollständig – und darum gilt die Würde der Menschheit als Ganzes.
  2. Nach Kant gab es weitere philosophische Versuche, das zu begründen. Die sogenannte Mitleidsethik des Philosophen Schopenhauer (1788-1860) sagt, dass der Mensch den anderen automatisch würdigt, da er Mitleid mit dem anderen hat.
  3. Die gegenwärtige Diskursethik ist allerdings anderer Meinung: Man muss über alles diskutieren, bis man eine Lösung bekommen hat – das gilt eigentlich auch für das Thema Würde. Da man aber nie zu einem letztgültigen Urteil kommen wird, behält man die Tradition solange bei, bis man eine gemeinsame Antwort gefunden hat.
  4. Andere betonen ein Abgestuftes Menschenwürde-Konzept, das heißt: Für jeden Menschen haben manche mehr Würde als andere, z.B. Wen würde man aus einem brennenden Haus zuerst retten? Die Familie, dann erst diejenigen, die nicht zur Familie gehören, und da auch noch mal abgestuft… (Manche würden wahrscheinlich nicht zuerst die Familie retten, sondern die Katze.)

Aufgabe 4:
Lies diese vier Punkte: Kannst Du diese nachvollziehen? Stimmt es mit Deinen Beobachtungen überein, zum Beispiel, dass alle Menschen Mitleid haben, dass man nur reden muss – man kommt immer zu Lösungen, dass es ein abgestuftes Würdekonzept gibt?

Zu diesen Themen siehe die Texte (sie sind nur freiwillig zu bearbeiten!) (PW: E-Ethik): https://mini.evangelische-religion.de/wuerde-des-menschen-2/

Menschenwürde – Religionen und Religionskritik

Die christliche Herleitung der Menschenwürde mit Blick auf Jesus hat einen Nachteil: Sie ist im Gespräch mit anderen Religionen nicht zu vermitteln. Der schöpfungstheologische Ansatz des Alten Testaments (Genesis) ist das eher, weil alle Religionen an einen Gott / Götter / Mächte glauben. Allerdings haben die Religionen unterschiedliche Anthropologien entwickelt – unterschiedliche Menschenbilder.

Im Gespräch mit der Religionskritik – also den Menschen, die Religion ablehnen bzw. ihr distanziert gegenüber stehen – kann der Ansatz der Gestaltungswürde, die Jesus mit seiner Lehre und seinem Leben vertreten hat, vertieft werden. Allerdings spielen Menschwerdung Gottes, die Rechtfertigungslehre und das Reich Gottes für sie keine Rolle. Religionskritiker suchen einen eigenen Ansatz, um die Würde des Menschen bestimmen zu können. Selbst der Ansatz von Kant ist manchem Religionskritiker in seiner Begründung zu metaphysisch, zu religiös: dass man so handeln soll, dass man den anderen nicht für sich selbst missbrauchen soll.

Es gibt folgende wesentliche religionskritische Richtungen:

Die erste Richtung: Der Mensch muss in erster Linie an sich denken (Individualismus-Hedonismus: es geht um das lustvolle, glückliche Leben des Individuums). Vor allem soll der Begriff Würde weniger absolut sein, damit bestimmte gesellschaftliche Veränderungen ermöglicht werden. Es wird die Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht betont – zum Beispiel:

  • Selbstbestimmungsrecht der Frau – für Abtreibung;
  • Selbstbestimmungsrecht des Menschen – wann ist der Mensch ein Mensch;
  • Selbstbestimmungsrecht des Menschen – für Suizid, Sterbehilfe;
  • Selbstbestimmungsrecht des Menschen – für Genforschung auch an embryonalen Zellen;
  • Selbstbestimmungsrecht der Eltern – gegen behinderte Kinder;
  • Selbstbestimmungsrecht der Gesunden – zur Zeugung von Menschen, um an die Organe zu gelangen. Es ist nur schwierig, abzugrenzen, denn gilt das auch dann:
  • Selbstbestimmungsrecht des reichen, bedeutenden Menschen – gegen arme, unbedeutende… (Organspende)?

Und die zweite Richtung: Der Mensch muss darauf achten, dass es der Gemeinschaft nutzt: Kollektivismus-Utilitarismus: Das heißt, der Mensch wird auf seine Nützlichkeit für die Gesellschaft reduziert.

Die dritte Richtung, die den religiösen Ansatz der Wesenswürde ablehnt und die Gestaltungswürde betont, versucht hervorzuheben, dass die Rechte des Individuums durch das Kollektiv, die Gruppe, gewahrt bleiben. Gut und menschenwürdig ist das, was die Menschheit bislang an Menschenrechten verwirklicht hat; es gilt festzuschreiben, was der Mensch als gut empfindet, und das ist auch von der Gesellschaft einzufordern. Es gilt, andere nicht verächtlich zu machen und zu demütigen, der Mensch hat ein Recht – auch wenn nur ein Minimum an Recht – auf Lebensqualität (Leidminderung), auf Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, ein Recht darauf, nicht ohne Einwilligung missbraucht zu werden, Recht auf Hilfe in Not, die man nicht selbst verschuldet hat.

In der Frage nach Würde geht es nicht allein um eine Frage Religion-Nicht-Religion, sondern auch um die Frage des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Individuum.

Aufgabe 5:
Wie siehst Du das: Soll das Selbstbestimmungsrecht über der Aussage stehen, dass alle Menschen gleiche Würde haben? Könnten vielleicht beide Ansätze zusammengeführt werden?

Daran sieht man:

Dass jeder Mensch gleiche Würde hat, das lässt sich empirisch (also wissenschaftlich) weder widerlegen noch bestätigen. Naturwissenschaft sagt dazu nichts – kann und darf dazu nichts sagen, wenn sie Wissenschaft bleiben möchte. Das, was wir heute in unserem Kulturkreis als Würde bezeichnen, ist im Laufe der Jahrtausende gewachsen. Neben den genannten Texten tragen dazu auch die Erniedrigungs- und Unrechtserfahrungen von Menschen und Schriften bei: Hiob, Jeremia, Psalmen, Jesus, nachjesuanische Erfahrungen: Geschichten christlicher Märtyrer usw. Dazu verhalfen auch philosophische Anthropologien (Menschenbilder), die Gründe für eine solche zu verbalisieren suchten, um sie rechtlich begründet umsetzen zu können. Immer aber wird berücksichtigt, dass ein ungeklärter Rest bleibt, bleiben muss. Letztlich wurde diese Sicht, dass alle Menschen Würde haben, als eine Errungenschaft von uns Menschen angesehen, in der sich auch Menschen anderer Kulturkreise wiedererkennen. Weil die Würde häufig in Frage gestellt wird, muss sie sich aber immer wieder in allen Kulturen neu durchsetzen.

Menschenrechte in anderen Religionen

Der kürzlich verstorbene katholische Theologe Hans Küng (1928-2021) hat mit anderen Menschen weltweit einen Weltethos erarbeitet. Das heißt: Sie haben beobachtet, dass Menschen weltweit Grundregeln für das gute Zusammenleben haben. Diese Grundregeln werden „Welt-Ethos“ genannt.

Aufgabe 6:
Dazu lies: https://www.weltethos.org/was_ist_weltethos/

a) Was fand 1993 Wichtiges statt?
b) Welche Werte zählen im Projekt Weltethos? Schreibe sie auf!
c) Lies: https://de.wikipedia.org/wiki/Weltethos
d) Der genannte Wikipedia-Artikel nennt auch Kritiker. Stimmst Du den Kritiken zu? Lehnst Du sie ab? Warum?
e) Betrachte das Bild des Video-Clips. Fällt Dir etwas auf, was negativ ist?

Das anzusehen ist kein Muss! Der Clip geht auf das Grundgesetz ein: