Bibel 3: Hermeneutik

Einleitung

Wir haben es als eine Kultur, die sehr stark auf das Lesen konzentriert ist, mit Texten aller Art zu tun. Texte der Gegenwart, Texte naher Vergangenheit, Texte aus alten Zeiten.

Aufgabe 1: Bevor Du weiterliest, überlege: Welche Vorteile bietet es, mit geschrieben Texten zu tun zu haben? Manche Kulturen haben nur mündliche Traditionen. Welche Vor- und Nachteile hat das? Schreibe Deine Überlegungen auf.

Wenn wir uns mit Texten beschäftigen, dann muss man versuchen, die Texte zu verstehen. Manchmal scheint es sehr einfach zu sein – manchmal sind die Texte äußerst kompliziert. Kompliziert ist es vor allem dann, wenn wir mit Texten aus anderen Kulturkreisen und vergangenen Zeiten zu tun haben. Das darum, weil wir in einer Tradition von Textauslegungen stehen. Wenn die Tradition jedoch abgebrochen ist oder nie vorhanden war, dann wird es schwer, den Text zu verstehen. Wenn wir zum Beispiel einen Text aus den Heiligen Schriften der Buddhisten lesen, fällt es erst einmal nicht leicht. (Wer das nachvollziehen möchte, hier gibt es einen willkürlich ausgewählten Text: http://www.palikanon.com/abhidham/dhat/dhat02.html#_Toc529544593) Das betrifft inzwischen auch Texte der Bibel: Viele Menschen unseres Kulturkreises haben Schwierigkeiten mit einzelnen Texten, weil sie nicht mehr mit ihnen groß geworden sind.

Wie dem auch sei: Um sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, gibt es wissenschaftliche Methoden, die wir unter „Exegese“ kennen gelernt haben. Noch einmal kurz zur Erinnerung:

Exegese

Das Wort Exegese kommt aus dem Griechischen und bedeutet: erheben im Sinne von herausarbeiten, herausführen… – das bedeutet mit Blick auf Texte: Herausarbeiten, was die Texte sagten, was wollte der Autor, die Autorin mit dem Text wirklich sagen. Der Hintergrund dieser Frage: Wir lesen häufig etwas in die Texte hinein, etwas, das den Autorinnen und Autoren gar nicht in den Sinn gekommen ist. Aber wir wollen ja wissen, was diese selbst sagten. Darum muss man Folgendes beachten.

Um Texte verstehen zu können, müssen wir die 7 W-s berücksichtigen:

  1. Wer ist der Autor? (Zeit, in der er lebte, Erziehung, Beruf, Bildung usw.)
  2. Wo schrieb er den Text?
  3. Wann schrieb er ihn? (Frage der Zeit, aber auch der Situation, z.B. Verfolgung, Friedenszeit…)
  4. Wem schrieb er?
  5. Was schrieb er? (Thema/Themen)
  6. Wie schrieb er? (Welche Textart, -form, -gattung verwendet er; in welcher Sprache?)
  7. Wozu/Warum schrieb er? (Zweck der Schrift)

Um die Texte verstehen zu können, muss man die Begriffe klären, muss die Struktur erkennen. Das und vieles mehr wird in der so genannten Literarkritik erarbeitet. Man muss man, so gut es geht, den Autor oder die Autorin in ihrem Lebenskontext verankern: in der Zeit, in der sie lebten, in der Situation usw. Das findet Ihr hier ausführlicher dargestellt: https://mini.evangelische-religion.de/exegese/

Hermeneutik

Es geht in diesem Abschnitt jedoch nicht um Exegese, sondern um Hermeneutik. Das Wort „Hermeneutik“ wird von einem der alten Götter abgeleitet: „Hermes“. Hermes galt als Götterbote. Er hat die Infos der Götter zu den Menschen gebracht und das, was Menschen den Göttern zu sagen hatten, zu den Göttern – aber eben: interpretierend. Er hat nicht einfach die Worte wiederholt, er hat das Gemeinte mitgeteilt.

Wenn man den Text also exegetisch verstanden hat, zumindest soweit es uns jeweils gelingt, stellt sich die Frage der Hermeneutik: Was ist verstehen?/Wie kann man verstehen?Was bedeutet der Text für die Gegenwart? – Was bedeutet Verstehen für die Existenz des Menschen, sein leben in seiner Welt.

Es ist deutlich, dass es ein sehr komplexes Thema ist. Es sei an dieser Stelle grundlegend angedacht – eher traditionell, weniger philosophisch. Wobei ein paar philosophische Abstecher zu eingefügt werden.

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Diese Frage, wie ein Text verstanden und umgesetzt werden kann, ist schon sehr alt. Die alten Bibelausleger in der Antike versuchten das rational zu durchdringen. Das wurde aber schon immer praktisch gehandhabt. Wenn nach der Befreiung des Volkes Israel das Passahfest in der Erinnerung des Volkes verankert wurde, dann ist das ja auch eine Folge von Textinterpretation.

Nach Vorüberlegungen von dem Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) hat das wissenschaftlich für die Moderne zum ersten Mal Wilhelm Dilthey (1833-1911) intensiv zu erfassen versucht. Hier geht es im Folgenden jedoch um biblische Texte.

Aufgabe 2: Was sagt Gadamer?

Aufgabe 3: Worauf legt dieser Clip das Gewicht?

Aufgabe 4: Lies den folgenden Text, der auf die Bedeutung hermeneutischen Fragens eingeht. Welchen Aussagen stimmst Du zu – und warum? Welchen Aussagen stimmst Du nicht zu – warum nicht?

(Hinweis: Wenn Du auf die unterstrichenen Wörter klickst, dann wird die Datei sofort geöffnet.)

Aufgabe 5: Lies diesen Text erst, wenn Du die Aufgabe 4 selbständig bedacht hast. Dieser Text gibt eine modifizierende Position wieder. Welche?:

Damit sind wir auch beim Thema: Hermeneutischer Unterricht. Das bedeutet kurz gesagt: Ich muss selbst erkennen, welche Hindernisse liegen mir im Weg, biblische Texte zu verstehen? Welche Voraussetzungen bringe ich mit, diese zu verstehen oder nicht zu verstehen? Wie kann ich sie aus meiner Lebenswelt heraus – und für meine Lebenswelt verstehen? Dabei geht es nicht allein um intellektuelles Verstehen, sondern auch um „emotionales“ Verstehen.

Nehmen wir zuerst den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Kennt Ihr die Geschichte noch? Hier könnt Ihr sie nachlesen: 2. Buch Mose 12,37 bis zum Ende des Buches Exodus. Ist ein bisschen viel – also keine Aufgabe.

Darum kurz gefasst: Gott beruft Mose, damit er sein Volk, das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Wie auch immer ein solches Geschehen historisch ausgesehen hat, es ist in der Neuzeit ganz wichtig geworden.

Dazu erinnert Euch an das Lied, das Ihr vermutlich schon einmal gehört habt: Go Down Moses:

Informationen und den Text findet ihr hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Go_down_Moses

Aufgabe 6:
(a) Lest das, was auf Wikipedia dazu geschrieben wurde. Macht Euch Notizen.
(b) Gebt den Text inhaltlich wieder.
(c) Und überlegt und notiert Eure Überlegung: In welcher Situation der Neuzeit hatte die alte biblische Geschichte eine besondere Bedeutung?

Dieses und andere ähnlicher Lieder soll, so sagt man, mit zur Befreiung der Sklaven in den USA beigetragen haben. Das Lied ist für Menschen, die in welcher Gefangenschaft auch immer leben, wichtig.

Gehen wir zum nächsten Beispiel über: Swing low

https://www.youtube.com/watch?v=VVKlw5fq83M&feature=emb_logo

Das Lied geht auch auf diese Zeit der Sklaverei zurück und greift einen Text des Alten Testaments auf:

Der Prophet Elias wird, so die Legende, während seines Sterbens in einem feurigen Wagen in den Himmel gefahren. (Siehe dazu auch: https://en.wikipedia.org/wiki/Swing_Low,_Sweet_Chariot )

Aufgabe 7:
(a) Lest den Artikel auf Wikipedia. Macht Euch Notizen.
(b) Gebt den Inhalt des Liedes wieder.
(c) Überlegt und notiert, bevor Ihr das Folgende lest: Was ist an dem Lied besonders?

Das Lied drückt Hoffnung im großen Leiden aus. Diese Hoffnung finden wir auch in einem Schreiben des bedeutsamen Menschen John Newton. Er hat sehr viel gegen den Sklavenhandel gekämpft. Bei ihm und seiner Frau lebte ein Mädchen, das sehr krank war. Und das Mädchen sagte kurz vor dem Sterben: „Warum zögert Gott, mir seinen Wagen zu schicken?“ Kurz darauf starb sie und Newton schreibt: „Gott hat großes für uns getan… Er sandte einen Wagen der Liebe für unsere liebe Eliza. Wir konnten fast sehen, wie sie ihn bestieg.“

Hermeneutik – der alte Text bekommt Bedeutung für die jeweilige Gegenwart. Er bleibt kein alter Text. An diesen beiden Beispielen wird deutlich, dass mit den alten Texten Hoffnung mitgegeben wird, dass sie Mut schenken. Von daher haben sie nicht nur Mut geschenkt – sie haben auch zur Tat angeregt.

Mit Blick auf die Gospel/Spiritual: „Der Lauf der Geschichte zeigt, dass die Glaubens-Freiheit, die Menschen Mut gab, sie als Menschen achtete, sie in der brutalen, unmenschlichen Lage durchhalten ließ, den Weg in die irdische Freiheit führte. Man nimmt nicht mehr einfach alles hin, bestimmt von dem phlegmatischen, resignierten Dasein: Man kann ja doch nichts gegen die Gewalt der Sklavenhalter machen! Im Gegenteil! Es gibt Hoffnung. Die Welt beginnt sich durch Gott zu weiten – auf Gott hin, aber auch auf die irdische Freiheit hin, von der die Bibel berichtet. Nicht umsonst wurden einzelne Spirituals wohl von der Underground Railroad als Codewort benutzt, um in die Freiheit zu flüchten.“ (Weitere Beispiele: https://gedichte.wolfgangfenske.de/spiritual-gospel/ )

Aufgabe 8
Das gilt für alle Texte. Sie werden ausgelegt, sie haben eine Wirkung. Überlege – und schreibe es auf, bevor Du die Anmerkung 1 weiter liest: Worin liegt die Besonderheit biblischer Texte – bzw. der Texte Heiliger Schriften überhaupt – im Vergleich zu literarischen/philosophischen Texten?

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Und nun kommt Eure intensive Eigenarbeit.

Der König David war nicht nur ein König, sondern auch ein Dichter und Sänger. Der Psalm (also das „Gedicht“/Lied) 23 wird auf den König David zurückgeführt.

Aufgaben 9:

Hört zuerst den Psalm 23.

Lest ihn: https://www.bibleserver.com/LUT/Psalm23

  1. Was bedeutet dieser Text inhaltlich? Worum geht es?
  2. Was sagt er über Gott?
  3. Was sagt er über den Menschen aus, der ihn gedichtet hat?
  4. Welche Bedeutung hat Gott für diesen Menschen?
  5. Könnt Ihr Euch vorstellen, warum der Psalm 23 für Menschen durch über 2000 Jahre hindurch eine sehr große Bedeutung erlangen konnte?
  6. Notiert Euch die wesentlichen Worte. Was sagen sie dem menschlichen Gefühl?
  7. Nachdem oben im Video der Psalm vorgelesen worden war, worauf wird da im Abspann hingewiesen?
  8. Warum wird darauf hingewiesen?
  9. Wie heißt Gott für Christen: der Hirte?

Also auch das gehört zur Hermeneutik: Die Texte für die jeweilige Zeit zu aktualisieren – auch aus christlicher Perspektive.

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Fazit:

Wenn man nun alte Texte hat, dann geht es zunächst darum, sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen.

Dann geht es darum zu fragen: Was bedeutet der Text für heute, für die jeweilige Gegenwart.

Einen dritten Schritt werden wir jetzt nicht vertiefen. Dieser lautet: Wie vermitteln wir einen alten Text in der Gegenwart. Diese Frage wird an der Schule dann spannend, wenn man im Unterricht alte Gedichte liest oder in der Oberstufe Goethes Faust usw. Das kann man dann auch an jedem Sonntag in den Gottesdiensten hören. In diesen wird in der Predigt, wenn es gut läuft, der biblische Text für die Gegenwart ausgelegt. Das Ziel: Menschen Hoffnung zu geben, Irrenden Wegweisung, Hilfestellungen zum Handeln in der Liebe usw.

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Noch ein Clip – Hermeneutik aus der Perspektive des Glaubens

Aufgabe 10:
(a) Welche beiden Formen christlicher Hermeneutik werden unterschieden?
(b) Wie sieht das Video das Verhältnis Gottes-Wort und Menschen-Wort?

Aufgabe 11: Fasse kurz zusammen, was Du in diesem Abschnitt gelernt hast. Was neu war, was Du kritisch siehst, was unverständlich ist.

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Anmerkung 1:

Das gilt im Grunde für alle Texte. Biblische Texte haben allerdings noch eine Besonderheit: Der Gott, von dem im Alten und Neuen Testament gesprochen wird, der ist derselbe Gott bis in die Gegenwart. Von daher haben die alten Texte eine ganz besondere Bedeutung für Glaubende. Sie sind im Grunde immer wieder neu.