1. Kurzes Vorwort: Würde, Recht und Gerechtigkeit
Recht und Würde des Menschen hängen eng zusammen. Menschen, denen der Zugang zum Recht verwehrt wird, werden entwürdigt. Sklaven haben keine Rechte, die sie einklagen können. Oder: Menschen haben als Individuen weniger Rechte als andere, so Frauen weniger als Männer, Herrscher mehr als alle anderen. Mit Sonderrechten sind immer auch Erhebungen verbunden, die dann immer stärker auch von anderen als Erniedrigung empfunden wurden (z.B. die Magna Charta reduzierte auf Drängen des Adels die Macht des Königs). Recht und Würde hängen sehr eng zusammen. Damit auch Gerechtigkeit. Aber Recht und Gerechtigkeit müssen nicht kompatibel sein. Das Recht ist in Rechtsstaaten fixiert – gilt freilich nicht für alle Zeit, sondern ist gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Die Frage stellt sich dann immer wieder: Wann wird Recht zu Unrecht (z.B. darf ein Gesetz die Tötung von Menschen erlauben – ist es dann noch Recht?). Recht soll auch um der Gesellschaft Willen Selbstjustiz verhindern. Das heißt, es muss so gestaltet sein, dass es Spannungen innerhalb einer Gesellschaft abfedert und sie nicht forciert. Recht ist gleichermaßen jedoch mit Mächten verbunden, die es auch trotz möglicher Widerstände durchsetzen kann und muss. Es muss freilich von möglichst vielen Menschen einer Gesellschaft als eine Größe empfunden werden, die Gerechtigkeit so gut es geht durchsetzt.
Gerechtigkeit ist von vielen Faktoren abhängig. Recht sollte der Gerechtigkeit angenähert werden, aber da das Empfinden von Gerechtigkeit subjektiv ist, kann es nur Annäherungen geben. Gerechtigkeit ist auch nicht gleichzusetzen mit Gleichheit. Denn auch Gleichbehandlung aller Menschen kann ungerecht sein. Aber das Ziel des Rechts muss Gleichheit sein.
2. KÜRZESTE GESCHICHTE DES RECHTS UND DER ETHIK
Entwicklung des Rechts
Menschen haben schon sehr lange über gutes und negatives Verhalten nachgedacht. Sehr alt ist der so genannte Codex Hammurapi (ca. 1700 v.Chr.). In diesem Codex heißt es, dass die Götter den König Hammurapi damit beauftragt haben, die Menschen zu lenken – und es folgen ca. 281 gesetzliche Abschnitte. Die Gesetze gegen Mord, Diebstahl, falsche Anschuldigungen, mit drohenden Anreizen für fleißiges und rechtes Arbeiten in der Landwirtschaft, als Kaufmann, Soldat, es geht um Ehe, Erbrecht usw. – vieles wird angesprochen, was unter Menschen Ärger hervorrufen kann – und Streitpunkte sollen in rechtlichen Rahmen gebracht, verhandelt werden. Es waren also die Götter, die den König mit der Gesetzgebung beauftragt hatten.
In Ägypten ist eine andere Dimension wichtig, die der Ma´at: die göttliche Ordnung, das Recht, die Tradition. Der Mensch bekommt sie nicht wie ein Gesetz, sondern er muss dieser Ordnung in dem, was er sieht, was er erlebt, nachspüren, sie in Worte fassen. Und so sind es weise Worte, mit denen Menschen Lebenshilfen bekommen, damit sie möglichst wenig Übles erleben, denn wer die Ma´at verletzt, wird es negativ zu spüren bekommen. (Freilich schließt das Gesetzgebung nicht aus. Seit der 18. Dynastie, ca. 1530 v.Chr., weiß man von schriftlich fixierten Gesetzen – vom Gott Thot hergeleitet?)
Im Alten Testament finden wir beide Traditionen wieder: Es gibt Gesetze, an die sich das Volk Israel zu halten hat – mit dem Namen Moses (1300 Jh.v.Chr?) verbunden -, und es gibt Weisheitsworte, an die sich der kluge Mensch hält – mit dem Namen Salomo (ca. 1000 v.Chr.) verbunden. Beide, Gesetz und Weisheitsregeln, werden von Gott hergeleitet. Und es sei angemerkt, dass die Propheten Gerechtigkeit – gerechtes Handeln – einfordern.
In Griechenland begann Drakon im 7. Jahrhundert vor Christus das Gewohnheitsrecht in Recht umzusetzen. Was dann über Solon und vielen anderen nicht nur dem jeweiligen Zeitgeist angepasst wurde, sondern auch den Menschen gerechter wurde. Ist das Gesetz nur etwas für die Schwachen, die die Starken und Mächtigen auf diese Weise binden wollen? Gilt das Gesetz für alle? Ohne Recht herrscht Willkür – von daher spricht Solon (640-560v. Chr.) vom „heiligen Recht“ (mit Bezug auf die Göttinnen Dike [Recht] und Eunomia [Heiligkeit]), das die Elite beschneidet und das Volk erhebt. Das Recht ist für das Zusammenleben der Menschen unabdingbar. (Das älteste bekannte Recht aus dem griechischen Bereich ist das Stadtrecht von Gortys aus dem 5. Jh.v.Chr.) Die Philosophen Sokrates/Platon vertiefen die Fragestellung und versuchen eine Letztbegründung des guten Gesetzes/Rechts: Es gibt ein gutes Recht (Nomos) – und das muss erkannt werden. Wenn es nicht erkannt wird, dann geht es ungerecht zu. Diese Traditionen beeinflussten in ihrer Weiterentwicklung auch das Römische Recht. Aber auch das Römische Recht hatte seine Wurzeln im Gewohnheitsrecht – das eng mit religiösen Bräuchen verbunden war. Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde das „Zwölftafelgesetz“ bekanntgegeben, das Vollbürger schützte. Das Recht wurde weiterentwickelt und ca. 1000 Jahre später ließ Kaiser Justinian I. (der Große)die alten Rechtstexte sammeln und 533/534 n.Chr. veröffentlichen. Das so genannte Corpus Iuris Civilis das mit Blick auf den dreieinigen Gott beginnt, hat seit dem Hochmittelalter auch unsere Rechtsprechung beeinflusst.
In dieser vorangegangenen Darstellung ging es
- um Gewohnheitsrecht,
- das zu staatlichem Recht verarbeitet wurde;
- um die ursprüngliche Herleitung des Rechts von den Göttern/Gott – um eine Letztbegründung;
- um Verhaltensregeln die Klugheitsregeln entsprechen;
- um ein Streben nach dem dem Menschen vorgegebenen wahren Recht;
- um Weiterentwicklung des Rechts.
3. Recht und Ethik
In der Ethik geht es jedoch nicht in erster Linie um das Recht – sondern um die grundsätzliche Frage:
- Was bestimmt das Verhalten des Menschen?
- Was sollte das Verhalten bestimmen?
Und zum Teil parallel zu den oben genannten Rechtsentwicklungen haben sich Menschen grundsätzlich darüber Gedanken gemacht.
Sokrates(469-399) wollte, dass die Menschen selbst darauf kommen, was wirklich gut ist. Das versuchte er durch geschicktes Fragen aus ihnen herauszulocken: Ist die Tradition gut? Ist das, was der Mensch leichthin denkt, auch noch bei näherem Betrachten gut?
Platon (428/7-348/7): Vor Sokrates und Platon wurde gefragt: Wie kann man gut leben? Antwort: Man kann gut leben, wenn man sozial eingebunden ist. Sozial ist man eingebunden, wenn jeder das in ihm angelegte Lebensziel für die Gemeinschaft perfektioniert. Bei Platon wird die Tugendlehre betont. Sie hat mit Gemeinschaft zu tun, geht ihr aber voraus: Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Großzügigkeit – kurz: Man muss das Gute erkennen, die Idee des Guten, das vollkommene Gute – und sein Verhalten entsprechend ausrichten. Was die Idee des Guten ist, das weiß der philosophisch Denkende, der Freund der Weisheit (Philo-Sophie).
Aristoteles (384-322), der dritte große Philosoph der Griechen, die unser Denken beeinflusst haben, sieht als Lebensziel des Menschen das Glück an. Um das zu erreichen, ist es notwendig, das naturhafte Streben des Menschen nach Glück dem Verstand unterzuordnen. Aber da nur die Götter glücklich sind, arrangiert man sich als homo politicus mit den anderen Menschen, um möglichst viel davon erreichen zu können. Glücklich ist ein tugendhaftes Leben – aber ein Leben, in dem die Tugend nicht erzwungen ist, sondern Freude macht. Zum Beispiel: Ein Mangel an Tugend ist die Zügellosigkeit – ein erzwungenes Übermaß ist die Gefühllosigkeit – die goldene Mitte ist die Besonnenheit. Man betrachtet die Tugenden nicht um der Tugenden willen, sondern sie sollen Auswirkungen auf das Zusammenleben haben.
Es wird deutlich, dass es hier nicht mehr allein um die Frage des Rechts/Gesetzes geht – und das wird bei dem vierten großen Denker Epikur (341-271/0) vollends deutlich: Lust ist Ziel des gelungenen Lebens. Man hat Epikur lange missverstanden – aber in der Auseinandersetzung mit ihm ist die Philosophie doch weiter gekommen. Es geht Epikur nicht um Sex, um Vergnügen – sondern um: Seelenruhe, Lust der Seele. Und diese Seelenruhe wird durch viele Ängste gestört. Was bringt Lebensglück? Die Ängste auszuschalten. Wie macht man das? Indem man sie rational durchdringt: Schmerzen sind auszuhalten – also muss man keine Angst vor ihnen haben; wenn man tot ist, spürt man nichts mehr – warum dann Angst vor dem Tod? Götter strafen nicht – also ist Angst vor Strafen der Götter (Schicksal) unbegründet; warum Angst vor Verlust? Alles was man wirklich zum Leben benötigt ist doch recht wenig.
Die Hand wird voll: der fünfte große Denker – der zumindest durch seine Schüler großen Einfluss bekommen hat – ist Zenon von Kition (333/2-262/1). Die von ihm ausgehende Gruppe ist die der Stoiker, die auch die frühen christlichen Denker intensiv beeinflusste: Die Vernunft muss lernen, sich dem Grundprinzip der Welt – der Vernunft, der Ordnung, Zeus genannt – anzupassen, sich in sie eingliedern mit dem Ziel, sich zu vervollkommnen, indem man diese Anpassung immer stärker beherrscht. Und je mehr man diese Vervollkommnung erreicht hat, desto gelassener wird man. Und wesentlich: das gilt für alle Menschen, das gilt nicht nur für die Elite (vgl. Epikur), das gilt den Sklaven wie den Herren, den Philosophen wie den Händlern – jeder hat Teil an dieser Weltordnung. Diese Sicht hat viele weitere einflussreiche Menschen beeinflusst: Seneca, Epiktet, Mark Aurel (auch wenn Mark Aurel aus politischen Gründen gegen diese Prinzipien handelte).
Mit diesen fünf Denkern ist die allgemeine Richtung für spätere Zeiten vorgegeben. Der Weg ist die Vernunft – aber dieser Weg gabelt sich in zwei Folgewege:
- gibt es eine Grundidee (Platon), ein Grundprinzip (Stoa), das die Ethik prägt, vorgibt? – Diesem Gedanken folgen spätere Christen bis in die Gegenwart hinein;
- muss die Ethik eher innerweltlich erklärt werden (Aristoteles, Epikur)? Diesem Gedanken folgen vor allem neuzeitliche Denker, die das religiöse Element stärker ausklammern.
- Nicht, dass damit alle Aspekte schon vorgegeben sind. So hat zum BeispielAugustin (354-430) gesehen, dass der Mensch in seiner Natur vorherbestimmt ist, dass er aber einen eigenen Willen hat – mit den Stoikern – und sich dem Willen Gottes anpassen kann. Und dieser Wille Gottes – nennen wir es Grundprinzip – ist die Liebe. Es wird deutlich, dass hier unterschiedliche Traditionen miteinander verbunden wurden: Griechische Philosophie, Altes Testament, Lehre Jesu Christi. Anders als bei den griechischen Philosophen steht auch ein wichtiger jüdisch-christlicher Aspekt im Vordergrund: Nicht der Verstand erarbeitet sich das Göttliche – sondern Gott offenbart seinen Willen, der mit dem verstand nachzuvollziehen ist.
Mit diesem Denken sind auch weitere Themen verbunden, zum Beispiel:
- Ist der Mensch von Haus aus böse oder gut?
- Ist der Mensch eigentlich wirklich frei zu entscheiden oder ist er abhängig von einem Gott / von dem Schicksal / von der Gesellschaft?
- Woher nimmt er Verhaltensregeln: aus der Natur, aus der Tradition? Geben sie ihm vor, wie er sich zu verhalten hat? Bestimmt das Sein das Sollen – oder das Sollen das Sein?
Aufgabe: Lies die Bergpredigt Matthäus 5-7 – vor allem Kapitel 5. Wie geht Jesus mit dem traditionellen Recht um?
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4. Ein paar Hinweise zum Recht in Nordeuropa des Mittelalters:
In Nordeuropa herrschte im Wesentlichen Gewohnheitsrecht bzw. Stammesrecht. Diese wurden dann verarbeitet in Landesrecht mit jeweiligen Sonderrechten (z.B. Hofrecht, Stadtrecht). Im 13. Jahrhundert trugen Rechtsbücher (dazu auch das Corpus Iuris Civilis) dazu bei, dass das Recht in Mitteleuropa angeglichen wurde. Erst ab dem 13. Jahrhundert wurde an Universitäten römisches und Kanonisches Recht (Kirchenrecht) gelehrt und Experten für das Recht/Juristen haben immer stärkere Bedeutung bekommen. Das kirchliche Recht hat in manchen Bereichen das weltliche Recht beeinflusst (z.B. Eherecht).
Man kann im Internet viel Altes zu dem Thema finden. Viele, vor allem antikirchliche Seiten zeigen, dass die Kirche eine sehr große Dominanz hatte. Aber neue Forschung sieht das differenzierter. Die veralteten Theorien verwechseln altes Recht mit Kirchenrecht und schieben alle Grausamkeiten, bis hin zu Hexenverfolgungen, Gottesurteilen usw. dem Kirchenrecht zu. Das hängt damit zusammen, dass die Kirche heute noch existent ist, somit kann man sozusagen leichter Schuldige finden. Statt zu sagen: Der Landesherr XY, die Juristen XYZ, die Stadt X und die Stadt Y – sagt man: die Kirche. Dieses undifferenzierte Denken ist heute nicht mehr haltbar, aber natürlich leichter zu vermitteln. Zudem muss weltliches Recht vom kirchlichen Recht unterschieden werden. Mancherorts haben Kirchen kirchlich geurteilt, dann aber den Verurteilten dem Staat übergeben und der hat dann selbst noch einmal Untersuchungen durchgeführt und eigene Urteile gesprochen.
Zum Beispiel das Gottesurteil: Es uralt und schon im Alten Orient verbreitet, wurde von germanischen Stämmen ebenso praktiziert. Mit der Christianisierung wurde das dann einfach mit dem christlichen Gott in Verbindung gebracht. Erst entschieden die Götter – dann eben Gott. Es war eine Rechtsform, die heute nicht anerkannt wird, aber eben in der damaligen Zeit, weil man vielfach keine Möglichkeiten hatte, Schuldige von Unschuldigen zu trennen, wie man sie heute hat. Aber: Schon aus christlicher Perspektive wurden Gottesurteile aus christlichen Gründen abgelehnt (Agobard von Lyon: 9. Jh.) oder mildere Formen propagierten (Kreuzordal: Wessen erhobene Hände zuerst vor dem Kreuz sanken, war schuldig – also psychische Form), während andere Christen sie aufgrund der Tradition akzeptierten. Gottesurteile verschwanden im 13. Jahrhundert, weil das IV. Laterankonzil Priestern verboten hatte, daran teilzunehmen.
Schwerer zu beurteilen ist folgender Aspekt: Menschen wurden vom Staat hingerichtet, weil man fürchtete, Gott würde die Gemeinschaft strafen, wenn man Sünder duldete. Dieses Denken finden wir auch im Alten Testament und ebenso in anderen Gesellschaften. Von daher hat der Staat religiös verurteilt, ohne kirchliches Recht anzuwenden. An dieser Stelle muss ich jedoch sagen, dass ich den Stand der neusten Forschung nicht kenne.
5. Was hat Ethik mit Recht zu tun?
Was hat Ethik mit „Recht“ zu tun? Ethische Diskussionen führen vielfach dazu, rechtlich verbindliche Regeln zu erstellen. Dazu ein paar Begriffe:
- Naturrecht: Das Verhalten des Menschen ist von der „Natur“ her vorgegeben. (Christlich gesprochen: Gott ist der Schöpfer. Sein Geist wirkt in der Welt als Erhalter. Als solcher hat er in den Menschen allgemein verbindliche Verhaltensweisen „angelegt“. Natürlich kann der sündige Mensch sie ignorieren. Sie können jedoch immer wieder durchbrechen. Zum Beispiel die Menschenrechte. Wenn sie weltweit gültig sind, nicht nur eine Folge jüdisch-christlicher Religion, intensiviert und rechtlich geregelt durch Humanismus und Aufklärung, dann gelten sie auch überall und sprechen überall auf der Welt Menschen an. Wenn sie jedoch nicht allgemein gültig sind, gelten sie auch nur dort, wo man sie akzeptiert.
- In dieser Hinsicht ist auch vom „Gewissen“ die Rede. Die Stimme Gottes in uns Menschen (Seneca, ep. morales 41 [1. Jh. n.Chr.]) wird dann in der Neuzeit von Gott gelöst: Es wird zu dem den Menschen einwohnenden Richter. Dass der Mensch dieser „inneren Stimme“ / „dem Richter“ verpflichtet ist, wurde von Thomas von Aquin [13. Jh.] angedacht und ist dann wohl durch Kant [18./19. Jh.] in der säkularen Gegenwart so relevant geworden, dass die Gewissensfreiheit im Grundgesetz (4,1) Eingang gefunden hat. Denn die Beweggründe des Gewissens können nur bis zu einem gewissen Grad argumentativ vermittelt werden bzw. die jeweiligen Argumente können letztlich nicht alle überzeugen. Das Problem in der Gegenwart: Der Bundestag kann Gesetze erlassen, die dem einzelnen Abgeordneten Gewissensfreiheit zusichert. Aber wenn der Sachverhalt durch die Mehrheit Recht geworden ist, gilt die Gewissensfreiheit nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt. – Die Profanisierung des Gewissens ist weiter gegangen und fand seinen Gegner in dem Psychiater Freud [19./20. Jh]: Das durch das Kollektiv entstandene Gewissen muss durch den autonomen Verstand diszipliniert werden. Das bedeutet: Das Gewissen ist Folge der Sozialisation. Die Frage ist aber, ob es bzw. ob die Möglichkeit der Ausbildung eines Gewissens auch angeboren sein kann. – Das „schlechte Gewissen“ spielt im Christentum auch eine große Rolle: Wir handeln gegen die Stimme Gottes in uns. Folge: Ein schlechtes Gewissen. Gott kann das Gewissen des Glaubenden wieder heilen und er führt ein Leben so, dass das Gewissen aus der Bindung an Gott frei ist. Das bedeutet: Es wird unterschieden zwischen dem Gewissen, das den Menschen nach einer Tat plagen kann – das kann Gott allein heilen; und es gibt das Gewissen, das den Menschen vor einer Tat an der Ausführung hindern, davor warnen kann. Wenn der Mensch (aus Gott heraus) in der Übereinstimmung mit seinem Gewissen lebt, ist er mit sich selbst eins/“im Reinen“. Allerdings kann der schuldige Mensch auch sein Gewissen beruhigen, lähmen, zum Schweigen bringen. An dieser Stelle bringt Gott immer wieder das Gewissen in Unruhe/Unfrieden, damit der Mensch „umkehrt“ zu Gott, sein Leben ändert.
- Positives Recht/Rechtspositivismus: Nicht Naturrecht ist relevant, sondern Recht ist von Menschen gemacht. Von daher sind rechtliche Festsetzungen immer in einem reglementierten Verfahren zu diskutieren und neu festzulegen. Darum kann es auch vorkommen, dass rechtlich etwas festgelegt wird, was moralisch fragwürdig ist. Richter müssen nach dem Gesetz richten – auch wenn es nicht (moralisch gesehen) gerecht sein kann. Moral ist Ausdruck des sozialen Umgangs von Menschen miteinander. Das Recht rationalisiert Moral, um diesen Umgang im Zusammenhang von Konfliktfällen regeln zu können – regelt aber das Zusammenleben, um Konflikte vermeiden zu helfen.
- Rechtssicherheit ist ganz wichtig: Menschen müssen wissen, wie sie sich verhalten sollen und welche Konsequenzen asoziales verhalten hat. Dazu finden wir im Alten Testament eine ganze Menge an Geboten. Die Frage des Rechts war den Römern auch wichtig. Als das Christentum in den römischen Raum überging, hat es alttestamentliche Traditionen und Traditionen des Römischen rechts übernommen. Kaiser Justinian I. hat im 6. Jahrhundert eine Rechtssammlung erstellen lassen, die bis in die Gegenwart Auswirkungen hat (Corpus Iuris Civilis). Aber dennoch mussten die jeweiligen lokalen Herrscher darauf achten, dass Recht herrscht. Vielfach herrschte Rechtlosigkeit. In diesem Kontext ist zum Beispiel „Burchards Dekret“ relevant. Bischof Burchard von Worms hat 1008-1012 eine Sammlung erstellt, in der zum Beispiel Mann und Frau, Juden und Christen gleich gestellt wurden, weil sie Ebenbilder Gottes seien. Sein Dekret war weit verbreitet.
6. Einfluss des christlichen Glaubens auf das Recht
Grundlegend hatte der christliche Glaube Einfluss: Mit dem Christentum kam ein neuer Ansatz auf: Recht wird nicht mehr allein definiert durch Aufrechterhaltung der Ordnung. Recht wird mit Gerechtigkeit zusammengeführt, versucht somit auch dem Individuum gerecht zu werden. Wissend, dass immer nur eine Annäherung stattfinden kann. Zudem war nicht allein die Tat relevant, sondern auch die Gesinnung. Die Gesinnung muss der einzelne überprüfen, um vor Gott zu bestehen. Das führte dazu, dass Menschen sich nicht erst schuldig fühlten, wenn sie eine böse Tat begangen hatten, sondern schon dann, wenn sie an eine solche dachten (vgl. Bergpredigt). Darum tat man Buße, durch eine Bußhandlung wurde vergeben – nicht wie heute in der evangelischen Kirche üblich durch eine allgemeine Zusprechung der Sündenvergebung, sondern durch Taten – und man konnte dadurch auf längere Sicht zu einem im Sinne Gottes veränderter Mensch werden.
Im theoretischen Sinn wurde Paulus wichtig. Es geht um das schon in der Philosophie formulierte Naturrecht: Die menschliche Natur gibt Rechte vor. Und diese werden, so Paulus, mit der Vernunft erkannt und durch das Gewissen (Römerbrief 1,19f. und 2,15). Verbunden wird das dann mit der Sicht, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Und so erkennt die Vernunft, so folgerte man im Mittelalter, dass alle Menschen – auch die Heiden – weltweit wissen, was gut ist und was schlecht ist. Dieses von Gott bestimmte Naturrecht kann auch kein Gesetz, das Menschen erlassen, außer Kraft setzen. In der Neuzeit wurde dann von der Grundlage Gottebenbildlichkeit und des von Gott gegebenen Gewissens abgesehen. Es wird ohne Letztbegründung konstatiert: dass die menschliche Vernunft (die auch von Gott gelöst wird) vorgibt, dass alle Menschen gleich sind – Menschenrechte gelten weltweit (obgleich man das aufgrund der Globalisierung nicht mehr ganz so sehen möchte: islamische und asiatische Länder haben andere Vorstellungen von Menschenrechten als Länder in christlicher Tradition). Aus evangelischer Perspektive sieht das Naturrecht den sündigen Menschen zu positiv.
7. Kleiner „schwerer“ Exkurs zu einer christlich-säkularen Rechts-Diskussion
Die Frage stellt sich aus säkularer Sicht: Wenn zum Beispiel das Strafrecht in seiner Begründung christlich oder säkular zum gleichen Ergebnis führt, ist die säkulare Interpretation nur eine Folge der zeitlich voran gehenden christlichen Interpretation? Also: Streicht die säkulare Interpretation einfach nur Gott – und setzt an seine Stelle die Vernunft welcher Art auch immer (praktisch, wissenschaftlich…) ein? Nein. Damit gibt sich die säkulare Interpretation nicht zufrieden. Sie sieht: Christliche und säkulare Begründung haben eine gemeinsame Basis: das Recht. Und dieses wird dann christlich, säkular und sonst wie begründet.
Der logische Haken besteht darin, dass „Recht“ keine abstrakte Idee ist. Es ist in den jeweiligen Kulturkreisen gewachsen. Auf diese Idee, dass das Recht allen Konkretionen vorangeht, kann man nur kommen, wenn man das in westlicher Kultur begründete Recht als Grundlage aller Kulturen ansieht. Und das ist eine Art Metaphysik – statt Gott wird das Recht eingesetzt – das ist säkular nicht zu begründen. Das ist freilich wieder religiöser Begründung entnommen: Gott als Erhalter seiner Welt hat in den Kulturen eine „Rechts-Grundlage“ gelegt, die allerdings in den jeweiligen Kulturen erst entdeckt und gereinigt werden muss. Und das geschieht dann eben in unserer christlich begründeten westlichen Kultur, die auch römisches Recht aus christlicher Perspektive rezipiert hat. Das kann der gegenwärtige Mensch allerdings so nicht stehen lassen, und es wird säkular eine neue Begründung gesucht. Der Mensch will alles selbst machen – ohne Gott. Aber überraschend: Gott ist immer schon da.
8. Recht – Gerechtigkeit und Gott
Gerecht ist Gott allein. Der Mensch ist ungerecht. Maßstab ist der Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat: Gott hält den Bund, der Mensch übertritt den Bund. Zur Gerechtigkeit Gottes gehört es, den Bundesbruch zu ahnden. Der Mensch merkt, dass er nie vollständig im Sinne Gottes handeln kann. Gott setzt Recht. Er gibt Gebote. Er zeigt, wie Menschen richtig miteinander umgehen, wenn sie sozial sind. Aber der Mensch verlässt das Recht und wird asozial. Das gehört zum Menschen als Sünder dazu.
Dann kommt ein neuer Klang in die Fragestellung, die dann im Neuen Testament zur vollen Entfaltung kommt. Gott ist nicht nur gerecht und ahndet Bundesbruch. Gott ist auch gnädig. Gott erlässt Schuld. Gott rechtfertigt den Menschen, setzt ihn durch den Glauben an Jesus Christus in eine neue Beziehung zu Gott und zu den Menschen. Dadurch wird der Mensch nicht mehr nur einer, der an dem fixierten Recht und Gesetz gebunden ist.
Er kann nicht nur gerechtfertigt sondern durch Gottes Geist auch sozial gerecht sein, kann Gerechtigkeit üben. Diese Gerechtigkeit wird in der Bergpredigt ausgesprochen. Die Gerechtigkeit der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu wird von der Liebe bestimmt, darum von Vergebung, von Gemeinschaftswillen – also geradeso handelnd, wie Gott in Jesus Christus.
Kurz gesagt: Das fixierte Recht wird durch Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, abgelöst.
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Aufgabe: Lies Markus 7,1-23 und 2,23-28 und 3,1-6 und 10,1-12: Wie geht Jesus in diesen rechtlichen Fragen mit traditionellem Recht um? Wie begründet er seine Sicht?