Wirklichkeit

Gibt es Farben? Nein. Alles ist grau in grau. Es gibt nur Strahlen, die von den mit Licht angeleuchteten Gegenständen zurückgelenkt und von den Augen / dem Gehirn als Farben erfasst werden.

Die Augen sehen die Welt – auf den Kopf gestellt. Das Gehirn muss das erst vom Kopf auf die Beine stellen.

Wir bauen in unsere Erinnerungen Träume ein, biographische Schnipsel anderer Menschen, Aussagen von Mehrheiten, denen ich mich anpasse – und denken, dass ich das selbst erlebt habe.

Der Mensch denkt, er habe so etwas schon vor Jahren gesagt – dabei hat er nicht, sondern er passt sich der jeweiligen Zeit und Stimmung an.

Wir denken uns die Menschen, mit denen wir zu tun haben, und stellen manchmal verwundert fest, dass sie ganz anders handeln, als man gedacht hat.

Kurios ist: das geht mit einem selbst auch so. Menschen sagen dann: Ich habe mich gar nicht wieder erkannt.

Die Filmwelt, Werbewelt, PC-Spielewelt versucht Wirklichkeit zu suggerieren – man lebt in dieser, aber sie ist keine. Wir weinen, wir kämpfen schwitzend, wir lachen… – in unserem Leben auf dem Sofa, dem Schreibtischstuhl…

Eine andere „Wirklichkeit“ – eine KI-Wirklichkeit:

https://thispersondoesnotexist.com/ (immer auf Aktualisieren klicken, dann tauchen neue durch KI „gebildete“ Gesichter auf.

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Aufgabe 1: Gib den Überlegungen Überschriften.

Überlegung 1:

Was trägt alles dazu bei, dass dieses Bild entstehen konnte?

Die Vergangenheit, die an den Steinen gearbeitet hat, der Wind und die Strömungen, die das Wasser bewegen, die lange, lange Generationenfolge der Algen, die Sonne. Darüber hinaus auch mein Auge, die Kamera und all diejenigen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte an den Kameras arbeitete, um solche kleinen Wunderwerke herzustellen.

Mit dem, was ich aus der Natur genannt habe, aus der Technik und von mir – ist ja nur ein winzigster Teil von all dem erfasst worden, was zu diesem Bild beigetragen hat.

Spüren wir den Wind? Den Geruch des Meeres? Wissen wir, wo die Wassertropfen schon überall waren, die gerade ans Meer schwappen? Spüren wir den Sand unter den Füßen? Hören wir das Schreien der Möwen? Was war rechts und links von dem Bild? Wie sieht der Mensch aus, der sich mit seiner Kamera (welcher?) über das Bild gebeugt hat?

Wir Menschen sind nicht fähig – wissenschaftlich gesagt – mit unserem evolutionär entstandenen Hirn, mit unseren evolutionär entstandenen Sinnen alles zu erfassen. Wir erfassen nur einen kleinen Ausschnitt, geschweige denn, dass wir die Gesamtwirklichkeit in Worte fassen können.

Und so wundere ich mich immer über Menschen, die meinen, die Wirklichkeit Gottes einfach so vom Tisch wischen zu können. Als wären sie in der Lage, Wirklichkeit als vollkommene Wirklichkeit zu erfassen. Vielleicht benötigen manche einfach den Kick zu denken: Ich bin der Größte. Vielleicht steigert es ihr Selbstwertgefühl, wenn sie meinen, sie hätten den Gesamtüberblick über Gott und Welt und Mensch.

Schon diese Frage muss stutzig machen: Kenne ich mich selbst? Habe ich meinen Körper im Griff? Meinen Geist?

Der nächste Zahnschmerz, die nächste Grippe, der nächste Zeh-Anstoß am Stuhl wird die Antwort bringen.

Überlegung 2:

Ein Schatten an der Wand oder auf dem Boden von einem Gegenstand: Ein Schatten zeigt nicht an, ob der Gegenstand dreidimensional ist. Was sagt das über unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit? Sie ist sehr, sehr eingeschränkt. Gleichzeitig: Sie arbeitet kreativ und konstruiert aus diesem Schatten einen Menschen.

Wir ahnen, welche Wirklichkeit hinter diesem Schattenspiel steckt. Aber wie es wirklich zwischen Sonnenstrahl und dem Schattenbild aussieht, können wir nicht rekonstruieren.

Überlegung 3:

Auch in der Gegenwart wird Storytelling intensiv genutzt. Eine Firma, die nur Fakten liefert, stellt sich ins Abseits, weil keiner lange zuhört. Darum versuchen Firmen, Geschichten zu erzählen. Es lautet dann nicht: Firma XY wurde im Jahr AD gegründet – sondern dann heißt es: Zwei Teenager haben in der Garage ihres Vaters herumgebastelt, sie wurden nicht müde, das große Ziel zu verfolgen… Und dann haben sie XY erfunden… Oder in der Werbung werden nicht einfach nur Fakten genannt: Das Auto hat so und so viel PS usw. – sondern es wird eine kleine Sehnsuchtsgeschichte erzählt. Oder um auf die Klimaerwärmung hinzuweisen werden nicht nur Temperaturen erklärt, sondern es wird die Geschichte von einem Eisbären auf einer schmelzenden Eisscholle verbreitet. In den Nachrichten werden häufig nicht einfach nur Wirtschaftsnachrichten aus einem Land berichtet, sondern es wird eine Frau, ein Mann, ein Kind ausgewählt – anhand dieses ausgewählten Menschen wird die schlimme Situation erklärt. Es erregt emotional nicht, wenn man gesagt bekommt, dass in einem Land unter jungen Menschen eine Arbeitslosigkeit von 40% herrscht. Das kann sich keiner vorstellen. Es ergreift die Menschen, wenn sie an einem Beispiel sehen, was das in der Realität bedeuten kann. Wobei dann allerdings auch verschiedene Schicksale zusammengefasst werden, um an einem Beispiel dargestellt zu werden.

Kurz: Storytelling ist wichtig. Es handelt sich jedoch nicht um reine Faktenübermittlung, es geht immer auch um vermittelte Weltbilder, es wird das vermittelt, wie sich der Mensch oder die Firma gerne sehen möchte und von anderen gesehen werden möchte – un abhängig von der Wirklichkeit. Durch Storys werden Menschen (man selbst) emotionalisiert.

Storyteller tragen Verantwortung. Menschen können auch zu bösen Taten durch Emotionen angestachelt werden. Es kann sein, dass gelogen oder Wirklichkeit gebogen wird, um Menschen zu beeinflussen.

Manche Menschen können auch „das Blaue vom Himmel auf die Erde“ schwatzen, anderen Menschen „einen Bären aufbinden“… – es gibt Sprichwörter über Menschen, die anderen mit Geschichten etwas vorgaukeln – und letztlich glaubt man das auch, wenn man nicht kritisch ist. Wir müssen uns vom Gefühl und dem Verstand leiten lassen.

Wenn Storyteller lügen – auch um einer guten Sache willen – so frage ich mich: Wollen sie selbst auch um einer guten Sache Willen belogen werden? Wahrscheinlich. denn sie belügen damit ja auch sich selbst.

Ich gaukele Euch mit dem Bild die Geschichte vom Frühling vor.

Überlegung 4:

Neulich in der ARD einen wunderbaren Film über Schimpansen geschaut. Der alte David, der seine Dynastie gegen die randalierenden jungen Schimpansenmännchen verteidigen muss. Fast wäre er gestorben, aber zäh lebt er weiter – was für eine Gesundheit diese haben! Eine riesen Wunde klaffte – aber sie wuchs wieder zu, trotz all der Maden, die sich vermutlich in der Realität dort haben entwickeln können, und auch sonst hatte er viele kleine Wunden – oder sind die robusten Affenmänner gegen so etwas resistent? David war´s. (Dann stürzen sich sicher Forscher darauf.) Ob die Weibchen, die seine Wunde leckten, wirklich so fürsorglich waren, oder das Blut mochten – nun denn, glauben wir dem Sprecher: sie waren fürsorglich… Dann, nachdem er sich wieder an Obst gesund gegessen hatte, entwickelte er eine Strategie, sammelte Gleichgesinnte, die sich gegenseitig lausten, und wird dann wieder Herr im Hause seiner Horde. Er vergibt dem Hauptaufrührer nicht, mit Namen – wenn ich richtig gehört habe: – Luther, der wird isoliert, hat dann natürlich Angst vor den vielen Alten, die sich zusammengeschlossen haben, um ihm das Leben schwer und die Weibchen abspenstig zu machen… Und dann der Höhepunkt: Er zeugt noch einmal einen Jungen, einen Jungen, wenn sich Freude in Schimpansenpapas Gesicht zeigen könnte, würde er sicher strahlen. Noch ein Statthalter, der mich vom Thron stürzen könnte. Nein, das hat er natürlich nicht gedacht. Der große Denker freute sich nur über seinen Sohn – oder war er stolz? – der geboren wurde. So ähnlich hieß es im Film.

Ist es so schwer, Natur Natur sein zu lassen, sie als Natur ernst nehmen? Nicht wichtig nehmen, weil man sie vermenschlicht, sondern weil Natur als Natur ernst zu nehmen ist. Nicht aus der Perspektive, in der sie als Objekt betrachtet wird, sondern als eigenständige Größe, die man achten soll.

Überlegung 5:

Überlegung 6:

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Philosophie und Erkenntnis

Woher haben wir das Wissen, die Erkenntnis – was ist das überhaupt? Denn das ist die Grundlage dafür, den Menschen – bzw. alles, was wir beurteilen – einordnen zu können. Eine äußerst knappe – fast sträfliche – Darlegung:

  1. Realismus: Es gibt eine objektive Realität. Platon meint, der Mensch habe den Verstand und die Fähigkeit, die wahre Idee hinter all der Vielfalt zu erkennen. Wer nicht als Freund der Weisheit lebt, sondern nur seinen Sinnen traut, sieht nur Scheinwelt – doch es bedarf der Fähigkeit des Geistes, hinter diesen vielfältigen Erscheinungen die Grundlage, die Idee, das Grundmuster, das Wahre zu erkennen (Höhlengleichnis!).
  2. Idealismus: Es gibt eine objektive Realität, aber die kann man nicht erkennen. Das, was man als objektive Realität erfasst, das ist nur durch das denkende Individuum erfasst worden, also subjektiv (Kant).
  3. Rationalismus: Wir haben als Erkenntnisquelle nur unsere Vernunft – sie ist von Äußerem unabhängig (Descartes). Weitergeführt vom kritischen Rationalismus: Alles ist vorläufig und muss immer wieder kritisch überprüft werden, da es keine absolute Erkenntnis gibt (Popper).
  4. Empirismus/Positivismus: Wir haben als Erkenntnisquelle die Erfahrung. Das, was man empirisch erfassen kann, ist wahr – denn nur das wird vom Verstand wahrgenommen, was zuvor sinnlich erfasst wurde (Aristoteles – bis in die Neuzeit: Hobbes, Locke, Hume).
  5. Logischer Empirismus: Erfahrung und Logik sind die Erkenntnisquellen (Carnap). Aber Erfahrung, die nicht logisch erfasst werden kann, ist nicht weiter zu beachten (z.B. religiöse Wahrheit).
  6. Materialismus: Nur das kann als richtig erkannt werden, was zu allen Zeiten und von jedermann wiederholt erkannt werden kann – und das trifft allein auf das Materielle zu. Nur das kann für den Menschen wahr sein.
  7. Skeptizismus: Erkenntnis ist immer abhängig vom jeweiligen Individuum, seiner Tradition, Kultur, seinen Denkfähigkeiten. Es gibt keine eindeutige Wahrheit für den Menschen.
  8. Konstruktivismus: Wir bauen uns die Welt je nachdem wie wir sie erkennen. Die Welt existiert, die Wahrnehmung wird konstruiert. „Wir“ konstruieren sie uns – nicht allein „Ich“ konstruiere sie mir. Die Sprache – damit die jeweilige Kultur – ist das magische Mittel, mit der Welt konstruiert wird.

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Aufgabe 2: Mache Dir übersichtliche Notizen aus den Clips und fasse das, was Dir wichtig erscheint, zusammen.

Ein paar Erklärvideos dazu:

Zu Rationalismus und Empirismus: https://www.youtube.com/watch?v=6S20klAH32o

Zu Materialismus und Idealismus: https://www.youtube.com/watch?v=6eU_8FOyvyo

Zu Skeptizismus: https://www.youtube.com/watch?v=uXKQLRYbriY

Zu Naiver Realismus: https://www.youtube.com/watch?v=7PJEEc7Qc_w

Zu Konstruktivismus: https://www.youtube.com/watch?v=oK48pf-B3ls

Zu Idealismus https://www.youtube.com/watch?v=4F7GczbuHhw

(Dieses Video ist einfach. Reduziert aber auch. Man muss beachten, dass es weniger darum geht zu betonen, dass die Welt nicht existiert, sondern es geht dem Idealismus darum, dass die Welt Nicht-Ich ist. Ich (bei Platon: der Philosoph, der Weise) bin wichtig in der Welterkenntnis. Ich bin der Erkennende. Indem ich mich in der Idee von Geschichte und Natur versenke, sie reflektiere, bin ich Erkennender. Mein Geist ist Teil der Gesamtheit der Welt (Natur usw.) und durch Erkennen verschmelzen Idee und Geist und eben Natur, weil man die Idee begreift. Welt ist mehr als das, was ich oberflächlich als Materie begreife – die wahre Idee hinter der Welt muss erkannt werden. Wahres Begreifen ist Erkennen der Idee als Wesen der Welt. Wer es intensiver wissen möchte, kann sich das Video ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=SdYXY1KRHSQ )

Aufgabe 3:
a) Was sagst Du nun, nachdem Du das alles gelesen hast, zum Thema Wirklichkeit?
b) Hast Du eigene Ansätze, Kombinationen?
c) Was ist wichtig, um Wirklichkeit, wie auch immer definiert, umfassend wahrzunehmen?

Wunsch:
Alles Gute – beim Wahrnehmen der Vielfältigkeit um Dich her, in Dir selbst…