Würde

MENSCHENWÜRDE

Im folgenden Abschnitt gilt es darzulegen, dass sich das Thema „Würde“ in der Geschichte der Menschheit erst langsam durchsetzen musste. Ein paar Stränge werden nachgezeichnet – bis zu den Ansätzen der Neuzeit. Wie wird die Aussage, dass alle Menschen gleichermaßen Würde haben, dass diese „unantastbar“ ist, begründet? Die Aussage, dass alle Menschen gleiche Würde haben, wird auch immer wieder durch bestimmte Ansätze in Frage gestellt – was zu massiven Konsequenzen für einzelne Individuen führen kann.

1. Die jüdisch-christlichen Grundlagen

a) Genesis 1 und 2: Wesenswürde und Gestaltungswürde

Der Mensch (als Mann und Frau) wurde als Ebenbild Gottes geschaffen (vgl. Jesus Sirach 17,3 und Weisheit 2,23). Das heißt: Mann und Frau haben von Gott Aufgaben bekommen. Sie sind Statthalter zur Bewahrung der Schöpfung: Sie benennen alles, was um sie herum ist. Sie sind kreativ… Die Bedeutung für das Thema „Würde“: Nicht nur Herrscher sind Ebenbilder Gottes, sondern alle Menschen. Es ist eine Wesenswürde, die dem Menschen zukommt. Aus ihr heraus folgt der Gestaltungsauftrag. Die Frage ist umstritten: Gilt diese Würde (a) dem jeweiligen Individuum oder (b) der Menschheit als Gattung.

Dass Mann und Frau gleiche Würde haben, entspricht auch Genesis 2. Die Frau wird aus der Rippe des Menschen/Erdlings geschaffen, nicht, um sie unterzuordnen, sondern um zu betonen, dass der Mann und die Frau ein Fleisch – also eine vollkommene Einheit – seien. Gott hauchte Menschen den Lebensgeist ein – er hauchte uns Würde ein. Doch der Mensch widersetzt sich dem Willen Gottes. Er hat von Gott von Anfang an Freiheit bekommen, sich widersetzen zu können, das heißt auch: Er hat Verantwortung übertragen bekommen – und muss auch die Konsequenzen tragen. Durch seine Sünde hat er seine Würde verzerrt, er ist verzerrtes Ebenbild Gottes – aber Würde hat er nicht verloren, genauso wenig wie Freiheit und damit das Tragen von Verantwortung.

Gott stellt den Menschen sehr hoch – darum fällt er umso tiefer.

Bemerkungen:

  • Wenn die Würde der Menschheit als Gattung gilt, dann bedeutet das, dass das Kollektiv – Israel: das Volk – den Auftrag bekommen hat. Das heißt, dass der einzelne Mensch nicht ganz so wichtig ist, Hauptsache das Volk überlebt, agiert… Wenn die Würde des Individuums gemeint ist, dann ist jeder Mensch zu achten. Beide Aspekte gibt es in Israel: Betonung des Volkes als Ganzes wie auch des Individuums, das vor Gott steht und klagt, dankt… ; Volk und Individuen müssen die 10 Gebote halten…
  • Genesis 9,5f. begründet das Verbot, einen Menschen zu töten damit, dass er Ebenbild Gottes sei. Und das bedeutet, wie Levitikus 24 verdeutlicht, dass ein Mensch, der den anderen tötet, des Todes ist, weil er damit Gott lästert, verspottet, verachtet. Damit wird jeder Mensch als Gottes Ebenbild unter Gottes Schutz gestellt, nicht nur, wie sonst üblich, der Herrscher bzw. hochgestellte Persönlichkeiten.
  • Freiheit verantwortlich im Willen Gottes zu gestalten und das damit verbundene Versagen, das ist das große Thema Israels.
  • Sklaverei in Israel: Knechtschaft zur Abarbeitung der Schulden gab es in Israel – aber diese Menschen mussten, wenn sie dem Volk angehörten, nach ein paar Jahren entlassen werden. Allen galt der Sabbat als Ruhetag.
  • Das, was Würde des Menschen ist, wird auch im Wesentlichen durch den Propheten Amos bestimmt. Er wendet sich gegen die Ausbeutung von Menschen durch Mächtige und die Oberschicht.
  • In den geschichtlichen Werken des Alten Testaments wird dargelegt, dass auch Könige unter dem Gesetz Gottes stehen.
  • Psalm 8 spricht von der Würde und Ehre des Menschen. In der griechischen Übersetzung werden dafür die begriffe: doxa (Herrlichkeit) und time (Ehre) verwendet,

b) Jesus Christus (ca. 7v.-30n.Chr.) Wesenswürde und Fokussierung auf Gestaltungswürde

Jesus Christus konkretisiert das Thema „Würde“ mit Blick auf das Individuum. Das Individuum muss seine Beziehung zu Gott klären, da hilft nicht das Volk. Dem Individuum kommt seine Fürsorge zugute: „Dein Glaube hat dir geholfen“ – dem Individuum wird Kraft zugesprochen… Jesus erwartet: Wird der Einzelne verändert, verändert sich das Volk – vielleicht dachte er sogar an die Menschheit.

Jesus argumentiert jedoch nicht mit Genesis 1-2, sondern er konstatiert die Würde des Menschen, ohne freilich einen entsprechenden Begriff zu verwenden.

 Auch die Frau, der geholfen wird, ist ein Kind Abrahams. Jesus argumentiert damit, dass Kranke und Sünder Hilfe benötigen. Er argumentiert mit dem Drang zu helfen (Mitleid?) (Mt 25,31ff.; Ethik der Einfühlung: vgl. auch Mt 7,12: positive Goldene Regel). Die Entwürdigten werden mit Blick auf die Zukunft aufgewertet und können sich somit jetzt schon aufwerten (Seligpreisungen). Jesus sagt: Ihr seid das Salz der Erde/Licht der Welt: Er begründet also nicht direkt, warum der Mensch Würde hat, er konstatiert die Würde der Angesprochenen – als Kinder Gottes (Mt 5): Seid vollkommen wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist. Auch die Antithesen in der Bergpredigt begründen die Handlungen nicht mit dem Thema Würde – sondern so entspricht es Gottes Willen. Gutes Handeln wird nicht mit dem Thema Würde gefordert, sondern damit, dass man dem anderen Gutes tue – über Grenzen hinweg (Gleichnis vom Barmherzigen Samariter).

Jesus fordert, Notleidenden zu helfen. Damit hat man Gott geholfen (Mt 25,31ff.). Er fordert, ein verwaistes Kind aufzunehmen, damit hat man Gott aufgenommen (Mk 9,33ff.). Der Gedanke, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, wird verschärft. Hier wird der Ansatz von Levitikus 24 erkennbar – aber nicht mit Blick auf Strafe, sondern auf helfen.

Nach Jesu Sterben und Tod, sah die Gemeinde: Leiden nimmt dem Menschen Würde – so empfindet es der Leidende vielfach. Das Leiden Jesu gibt dem Menschen Würde zurück (Dornen-Krone – das äußerste Erniedrigungsymbol wird Königssymbol). Der Tod nimmt dem Menschen Würde – so empfinden es Menschen, die den Tod als endgültige Begrenzung des Individuums wahrnehmen. Die Auferstehung Jesu gibt dem Menschen Würde über das Sterben hinaus.

Bemerkungen:

  • Jesus theoretisiert nicht über die Würde des Menschen – er handelt. Wenn er jedoch auf das Thema zu sprechen kommt, dann argumentiert er nicht mit Genesis 1-2. Er zieht viele Argumente heran – aber er zeigt, was es heißt, dass der Mensch Würde hat. Jedem Einzelnen, der durch Gesellschaft oder Krankheit entwürdigt ist, dem spricht er Gottes Kindschaft (= Würde) zu (vgl. Seligpreisungen).
  • Zentrales Thema der Lehre Jesu: Die Herrschaft /das Reich Gottes. Das, was er an Gerechtigkeit, Liebe usw. erwartet, soll der Mensch schon jetzt tun. Das Paradiesische, das erwartet wird, soll durch Aufhebung der Verzerrung vollzogen werden – der sündige Mensch kann umkehren, neu anfangen (Sündenvergebung führt zu Neuanfang das führt dazu, dass einer Gottes Willen tut, das führt zu einer Gesellschaft nach Gottes Willen.)
  • Das lehrt er in seiner Ethik (Bergpredigt+Gleichnisse+Diskussionen), das zeigt er durch seine Wunder.
  • Jesus Christus wird von der christlichen Gemeinde als das unverzerrte Ebenbild Gottes angesehen, weil er Gottes Willen tut. Er befreit zu einem neuen Leben für die Gemeinschaft in Verantwortung und Solidarität.

c) Apostel Paulus von Tarsus († um 65 n.Chr.)

In der frühen Christenheit waren auch viele Sklaven Teil der Gemeinde. Dem Apostel Paulus ging es wohl nicht in erster Linie darum, die Sklavenbefreiung zu propagieren. Aber ein Christ als Sklavenbesitzer sollte Sklaven wie Brüder / Schwestern behandeln (Brief an Philemon). Wesentlich: Man kann seine Würde als Kind Gottes auch als Sklave leben. Der Status vor Gott war wichtiger als der vor den Menschen. Das gab den Erniedrigten Würde. Ein Einsatz für die Sklavenbefreiung lag zu der Zeit nicht im Blick, wäre auch vom Staat massiv geahndet worden. Vielleicht formuliert Paulus aus diesem Grund so doppeldeutig: 1. Brief an die Korinther 7,20ff. – je nach Bibelübersetzung. Frauen haben gleiche Würde – allerdings konnten sie aufgrund der damaligen Situation nicht wie Männer handeln – sie waren gefährdet. Dass alle Menschen gleiche Würde haben – ohne das Wort „Würde“ zu verwenden, zeigt diese Aussage: „Jetzt ist es unwichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: in Christus seid ihr alle eins“ (Galaterbrief 3,28). Für Paulus hat der Mensch die Herrlichkeit Gottes (doxa) verloren, aber er kann sie im Glauben anstreben und spiegelt sie unvollkommen zwar, aber er spiegelt sie wider. Letztlich bekommt er sie vollständig in der Welt Gottes.

d) Ambrosius (339-397) und Luther (15./16. Jahrhundert)

Der Bischof Ambrosius von Mailand betonte, dass diejenigen Würde haben, denen Menschen die Würde nehmen. Er betont: Das verdient Würde genannt zu werden, wenn nach menschlichen Maßstäben einer unwürdig sei. Begründung (!): Das darum, weil Gott in Jesus Christus Mensch (unwürdig) geworden ist. Gott hat seine Macht aufgegeben darum sind auch Mächtige, die sich mächtig gebärden, ferner von Würde. Er beschreibt als Idealzustand: Alle teilen gleiche Würde (Dignitas). Würde und Freiheit gehören zusammen.

  • Ambrosius ist der erste (soweit wir wissen), der das Thema Würde ausführlich behandelt hat (die Frage stellt sich allerdings, ob die Schrift zum Thema Würde die ihm traditionell zugeschrieben wird, vom ihm ist oder nicht). Und er begründet die Würde anders als die Tradition (s.u. Cicero) nicht mit der Abstammung des Menschen, sondern religiös: Weil Gott Mensch wurde, sich bis zum Tod am Kreuz entwürdigt hat, hat auch der von Menschen als würdelos erniedrigte Mensch Würde. Gott erhebt den Entwürdigen. Die Würde des Menschen wird also nicht weltimmanent begründet, sondern mit der Transzendenz. Die Bedeutung dieser Begründung ist vor allem auch für die Neuzeit (s.u.) wichtig, die sich von der transzendenten Begründung abkoppeln will.

Für Luther wird Würde dem Menschen durch Gott in der Rechtfertigung (Gott macht den sündigen Menschen durch den Tod Jesu am Kreuz gerecht) zugesprochen. An Luther ist freilich zu sehen, dass das für den Umgang mit Juden mit Blick auf Würde keine positiven Folgen hatte.

e) Gregor von Nyssa (ca. 335-ca. 394)

Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Gott hat den Menschen geschaffen und auch sein Körper ist wichtig, da er durch den Körper den Auftrag Gottes ausführen kann, die Seele allein könnte es nicht. Die Seele ist frei, selbständig, handelt. Der Mensch hat durch seine ihm von Gott gegebene Ausstattung Würde (nicht dignitas sondern: axiosis). Sie hat Tugend, Reinheit, Unsterblichkeit, Gerechtigkeit, Glückseligkeit durch Nachahmung Gottes hat sie Schönheit. Gregor wandte sich massiv gegen Sklaverei. Der Mensch erhebt sich über Gottes Ebenbild, maßt sich an, Gottes Ebenbild zu besitzen.

f) Fazit

  • Diese jüdisch-christliche Tradition prägt den Umgang der Christen mit den Menschen, wenn auch im Namen Jesu Verbrechen begangen wurden (allerdings ohne sich auf Jesus berufen zu können), so gab es auch immer Menschen, die Nachfolge lebten. Eine Ahnung von dem, was Würde des Menschen bedeutet, bekommt man, wenn man die Bibel kennt bzw. insbesondere die Evangelien. Weil der Mensch Ebenbild Gottes ist, ist Sklaverei verboten (Gregor von Nyssa, 394 und andere). Der Mystiker Meister Eckart (1328) sieht, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist – es ist zwar zugeschüttet muss herausgearbeitet werden. Damit ist die Diskussion genannt: Das ursprüngliche Ebenbild wurde verzerrt – der Mensch muss dieses Ebenbild wieder annähernd herausarbeiten (Stufen der Würde). Mit Blick auf den Menschen als Ebenbild Gottes argumentierten der erste große Kirchenrechtler (Burchard von Worms) und Völkerrechtler (Francisco de Vittoria).
  • Das Thema Würde des Menschen wurde von Theologen des Mittelalters vielfach dargelegt. Es geht um Vernunft, die dem Menschen einzigartige Würde gibt – begründet mit der Bibel (vgl. Stoa und Cicero). Das heißt: Der Mensch als vernünftiges Wesen, als ein Wesen, das einen freien Willen hat, hat die Verpflichtung, seiner Würde entsprechend zu handeln (Bonaventura [13. Jh.], Thomas von Aquin [13. Jh.]). Der sehr einflussreiche Aufklärer John Milton (17.Jh.) argumentierte mit dem Menschen als vernünftigem Ebenbild Gottes, das man nicht töten dürfe.

2. Nichtchristliche Ansätze: Buddhismus, Islam, Cicero (Naturrecht)

a) Buddhismus / Buddha (Siddharta Gautama – 6. Jahrhundert vor Christus: Gestaltungswürde und Ashoka (304-232 v.Chr.): Gestaltungswürde und Ansätze der Wesenswürde

Buddha versucht das Kastenwesen aufzuheben. Die Würde des Menschen besteht darin, dass er versuchen kann, sich dem, was Würde nimmt, was entwürdigt – das Leiden – zu entziehen, um ins Nirwana, die Loslösung, zu gelangen. Der Achtfache Pfad versucht Vorgaben zu machen, die das Leiden durch Gesinnung und Tat vermindern. Es wird konstatiert, nicht argumentiert.

Auch Kaiser Ashoka argumentiert in den 14 Felsenregeln nicht, er konstatiert. Es ist das „moralische Gesetz“ das gilt. Ashokas  Regeln beginnen mit der Anrede: Geliebte der Götter… – und für die „Geliebten der Götter“ gilt: Gut ist es, nicht Tiere zu töten, gut ist es, Vater und Mutter zu ehren… Gegen Schuld auf sich laden, für Verdienste erwerben. Es geht um Unterstützung von Gefangenen, Kranken usw. Ziel: Wohlergehen, Glück und Erlangen der himmlischen Welt.

Bemerkungen:

  • An Kaiser Ashoka wird besonders deutlich, dass Buddhas Lehre soziale Implikationen hatte. Er spricht nicht von Würde, sondern davon, was gut ist, was Menschen gut tut. Ashoka hatte aber keine weiteren Auswirkungen. Er wurde in Indien vergessen, seine Regeln konnten auch nicht mehr übersetzt werden, weil niemand mehr deren Sprache verstand. Das änderte sich erst, als die Briten Indien besetzten und Forscher die Sprache entschlüsselten.
  • Ashoka hat aber nicht Sklaven freigelassen, keine eroberten Länder zurückgegeben. Menschen, die seine Sicht nicht übernommen hatten, wurden mit dem Tode bedroht.
  • Buddha hat einen ganz anderen Ansatz mit dem Thema Leiden, das Menschen entwürdigt, umzugehen als Jesus. Jesus kämpft gegen das Leiden an, indem er Menschen aufwertet und anspornt, gegen das Leiden anzukämpfen. Buddha lehrt, sich dem Leiden zu entziehen, das macht die Würde des Menschen aus. Beide haben somit auch ganz unterschiedliche gesellschaftspolitische Folgen.

b) Islam /Mohammed (ca. 570-632 n. Chr.): Von Allah bis ins Detail bestimmte Wesenswürde (Gesetz)

Würde hat der, der Allah – wie er sich im Koran kundgibt – folgt und den Propheten Mohammed – wie er in den Ahadith vorgestellt wird – anerkennt. Vernunft und Willensfreiheit sich für das Gute zu entscheiden, das macht den Menschen so groß, dass sich sogar Engel vor Adam niederwerfen. Weil alle Menschen von Adam abstammen, sind sie gleich. Menschen sind von Anfang an Verehrer Allahs – und manche sind von Allahs Forderungen abgefallen. Und diese müssen zurückgeführt werden.

Bemerkungen:

  • Die Menschenrechte gelten im Rahmen der Scharia – und deren Auslegung ist abhängig von Gelehrten – das gilt auch für die Würde der Menschen (Kairoer Menschenrechtserklärung 1990 und Arabische Charta der Menschenrechte erweitert 2004). Das heißt: Individuelle Freiheit wird durch die Umma (die Gemeinschaft) bestimmt, sie bestimmt wie ein Mensch handeln darf. De facto wird auch die Gleichheit aller Menschen nur in wenigen islamischen Staaten auf Religionsfreiheit ausgedehnt, da die Umma als kollektive Größe relevant ist, nicht das Individuum. Allerdings legen die fünf/sechs Säulen nahe, dass man sich um das Individuum kümmern sollte (Almosen).
  • Was Allah befiehlt, das ist Würde. Auch Körperstrafen werden allgemein als Islam-Konform, damit als kompatibel mit der Würde des Menschen angesehen. (Auch in einer Anmerkung des Korans der Ahmadiyya bestätigt: Anm. 54 zu Sure 5:38/9.)
  • Mohammed hat nichts gegen Sklaverei unternommen, im Gegenteil, denn Sklaverei war gang und gäbe.

c) Naturrecht und Cicero (106-43 v.Chr) (römischer Jurist, Rhetor und Philosoph in stoischer Tradition)

Die Natur lehrt, was es heißt, dass alle Menschen Würde haben: Alle sind gleich geboren worden. Aber das ist nicht die einzige Schlussfolgerung, denn die Natur zeigt auch, dass das Recht des „Stärkeren“ sich durchsetzt (je nach Intention: Reichtum, Macht, Leistung, Abstammung, Schlauheit; vgl. Platon: Gorgias).

Cicero:

  • Würde hat der Mensch aufgrund seiner Selbstbeherrschung.
  • Würde hat der Mensch aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung.
  • Würde haben alle Menschen, weil sie von gleicher Natur / Herkunft sind, wir haben Vernunft und unterscheiden uns von den Tieren. Diesen Ansatz hat er von den Stoikern übernommen.
  • Würde (dignitas) hat, wer sich der dem Menschen angemessenen Rolle gemäß benimmt.

Die ersten beiden Punkte entsprechen traditionellen Vorstellungen. Der vorletzte Punkt wurde zwar theoretisch angedacht, hatte aber noch keine gesellschaftspolitischen Folgen. Das Thema, dass Menschen aufgrund ihrer Würde geschützt werden müssten, ist nicht im Blick: Wesentlich ist die soziale Rolle, die man würdig zu spielen hat. Manche, die nicht tugendhaft und gemäß ihrer Rolle leben, sind nur dem Namen nach Menschen. Auch für Cicero waren Sklaven eine Normalität.

Bemerkungen:

  • Man spricht in der Literatur immer allgemein von „stoischer Tradition“. Soweit meine Recherchen zeigen, stammen die ersten eindeutigen Aussagen zur Würde in der stoischen Tradition von Epiktet (*um 50 + um 138): Dissertationes. Allerdings hat Epiktet nichts aufgeschrieben, sondern sein Schüler Arrian (um 90-nach 145) hat nach Epiktets Tod Lehren Epiktets herausgegeben, von denen man aber nicht mehr sagen kann, was von Epiktet, was von Arrian ist. Manches von dem, was Epiktet/Arrian sagt, klingt christlich. Während man früher davon ausging, dass Epiktet mit christlichem Denken konfrontiert worden war, nimmt man davon gegenwärtig Abstand, weil man meint, das sei Allgemeinwissen. Das jedoch ist nicht wissenschaftlich argumentiert, sodass an dieser Stelle intensive Forschung noch aussteht. Stoisch ist: Der Mensch ist Kosmopolit, weil er ein Mensch ist, der vom göttlichen Geist durchströmt wird, er hat Sprache und Verstand. Diesem Geist gehört er an, von daher kann er vom Körperlichen frei sein. Die Schranken, die Menschen aufstellen, sind irrelevant. Aber das bedeutet nicht, dass die gesellschaftlichen Schranken real aufgebrochen werden. Man muss sich einfügen in die vorgegebene Ordnung, auch als Sklave. – Stoiker und Christen haben einander weitergeholfen. Das sieht man auch daran, mit welcher Achtung Christen zum Beispiel über Cicero geredet haben. Zu recht.
  • Der moderne Sozialdarwinismus (das Recht des Starken und Gesunden und wie auch immer Fitten, sich durchzusetzen) greift im Grunde weltweit verbreitete Handlungsweisen auf. Mächtige und / oder Reiche bestimmen alles. Dass Mächtige auch unter dem Gesetz Gottes stehen, das finden wir im Alten Testament (z.B. David) vorgezeichnet, hat sich aber erst im christlichen Bereich mit Berufung auf die Bibel im 17./18. Jh. langsam durchgesetzt (Magna Charta). Dass Reiche nicht autark sind, das versuchte Solon (6.Jh.v.Chr.) durchzusetzen.
  • Sobald mit der Würde des Menschen aus der Natur begründet wird, kommt Übles in die Diskussion: Der Rückgriff des Mittelalters auf die Antike (Aristoteles) führte dazu, die Sklaverei zu begründen und begründete in der Neuzeit den Rassismus.
  • Dem muss aber nicht so sein: Auch die Kirche griff das Naturrecht auf: Menschen – als Geschöpfe und Kinder Gottes – haben von Natur aus Vernunft und Gewissen. Alle Menschen, Menschen aller Völker, stehen auf einer Stufe. Das förderte die Toleranz und auch die Kritik an Gesetzen, die dem Naturrecht nicht entsprachen, weil der Mensch nicht verändert werden kann.
  • Der Bezug auf Gott wurde in der Folgezeit, der Zeit der Säkularisierung immer stärker beiseite geschoben: der Mensch hat Würde, weil er als Mensch geboren wurde. Das Naturrecht wird aber als statisches Konzept hinterfragt: Der Mensch ist nicht abhängig von Vorgaben der Natur – er kann sie selbst beeinflussen, er muss experimentieren, was auch immer das für einzelne Menschen an Negativ-Erfahrungen heißt.

3. Neuzeit – im christlichen Kulturkreis – so genannte postchristliche Zeit

a) Kant (1724-1804):

Kant ist gegenwärtig wesentlich für die Frage nach der Würde, weil das Wort „Würde“ im Deutschen Grundgesetz auf seine Vorarbeiten zum Thema zurückzuführen ist. Freilich ist umstritten, was er damit meinte. Grundsätzlich: Die Autonomie der Vernunft des Menschen ist Grund der Würde. Der Mensch darf andere nicht für seine Wünsche benutzen. Die Vernunft dient der moralischen Selbstbestimmung. Der Kategorische Imperativ (Grundform): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Würde hat der sittliche Mensch.

Die Frage ist, wieweit Würde bei Kant auch für die geistig Behinderten usw. gilt, die nicht die Vernunft einsetzen können. Während er in der Moralphilosophie eher Behinderte ausschließt, werden sie in der Metaphysik der Sitten eher eingeschlossen. Eine mögliche Antwort: In jedem Menschen ist die Vernunft unvollständig – und darum gilt die Würde der Menschheit als Ganzes.

Bemerkung:

  • Das ist jedoch so eindeutig nicht. Warum sucht man also herauszufinden, dass auch Behinderte im Werk von Kant Würde haben?
  • Weil wir durch die jüdisch-christliche Tradition wissen, dass jeder Mensch Würde hat. Wir haben eine Vorstellung von „Wesenswürde“. Weil aber die jüdisch-christliche Tradition in der säkularen Zeit nicht mehr als Begründung dienen darf, sucht man einen anderen philosophischen Hintergrund. Freilich versucht man gegenwärtig auch, die Begründung der Würde des Menschen von jeglichem metaphysischen Ansatz (also auch von Cicero, Kant und somit vermutlich auch von Ashoka) zu lösen.
  • Wie auch immer das alles zu sehen ist, auch die Aufgeklärten Europas stehen in der jüdisch-christlichen Tradition. Das ist daran zu erkennen, dass Kulturen mit anderer Tradition eine ganz andere Vorstellung von Würde haben (Hinduismus/Indien; islamische Staaten…).
  • Ein Gegenentwurf zu Kant bot der Marquis des Sade: Natur und Vernunft gebieten die Herrschaft des Starken über die Schwachen und auch die Entwürdigung der Schwachen, soweit das dem Starken Lust bereitet. Denn es gibt keinen Gott, der das ahndet.

b) Gegenwärtige Ansätze: Keine Wesenswürde – nur Gestaltungswürde

Gegenwärtige Ansätze stellen den Verstand in den Vordergrund, darum wird Menschenwürde sowohl vom Naturrecht als auch vom christlichen Glauben gelöst. Niemand gibt vor, was Würde ist, weder Gott noch Natur, das muss neu bestimmt werden. Dazu gibt es unterschiedliche Ansätze, sie zu begründen:

  1. Mitleidsethik (Schopenhauer: 1788-1860): Menschen haben Mitleid – weil sie sich in den anderen hineinversetzen können: Was mir Leid bringt, bringt anderen Leiden, also versuche ich Leiden auch des anderen zu verhindern. In der Moderne weitergeführt: Der Mensch hilft auf der Grundlage: Selbstachtung + Respekt voreinander + materielle Sicherheit. Sie helfen Menschen, die leiden und ihr Leben nicht mehr gestalten können, diese Menschen müssen aber auch die Möglichkeit haben, sich selbst dem Leben zu entziehen. Embryonen haben noch keine Gestaltungswürde, weil sie keine Interessen und bewusste Bedürfnisse haben. Mit ihnen kann man auch kein Mitleid haben, weil sie ja noch nicht richtig als selbstbestimmte Menschen existent sind.
  2. Versuch, das Thema von jüdisch-christlicher Tradition zu lösen, ist auch in der Diskursethik (Habermas: *1929) zu finden: Menschen guten Willens müssen miteinander alles diskutieren. So muss man auch diskutieren, was man unter Würde versteht, wie man sie umsetzt, ob es Gestaltungswürde oder Wesenswürde oder beides gibt oder nicht.
  3. Gewohnheitswürde„: Manche möchten auch gar nicht mehr weiter diskutieren, sondern sagen: Es hat sich in der Moderne herauskristallisiert, was gut ist, was schlecht, was als Würde empfunden wird, was nicht: Insgesamt gilt: Was dem Menschen gut tut – und was sich an Rechten im Laufe der Zeit ergeben hat (z.B. Bürgerrechte) – ist Maßstab.
  4. Schleier des Nichtwissens (Rawls: 1921-2002): Man weiß nicht, wie man in Zukunft leben muss. Und darum soll man sich in die Lage derer versetzen, die arm sind – das bedeutet, dass man darauf achten muss, dass diejenigen, die am wenigsten begünstigt sind, größtmögliche Vorteile zukommen – weil man selbst nicht weiß, ob man irgendwann einmal Nutznießer dieser Vorteile sein wird. Das Thema Würde ist intendiert.
  5. Utilitarismus: In der Gegenwart sind verschiedene Spielarten des Utilitarismus dominant: Maßstab für das Verhalten ist nicht die Würde des Individuums, sondern: Welchen Nutzen hat die Gruppe vom Individuum. Freilich hat die Gruppe größtmöglichen Nutzen, wenn es dem Individuum gut geht, aber das Individuum muss zur Not dem Willen der Gruppe geopfert werden.
  6. Ein abgestuftes Menschenwürde-Konzept erkennt Herdegen – was zu Differenzierungen im Würdeschutz führt (Ungeborene – neu Geborene – Erwachsene; Grundlage der Differenzierung ist die zwischenmenschliche Beziehung: Wer rettet wen zuerst?)

Bemerkungen – gleichzeitig zu bedenkende Fragen:

  • Kritik an Schopenhauer (1.): Folgen für die Gesellschaft: Sterbehilfe, Abtreibung usw. muss entgegen christlicher Tradition ermöglicht werden. Voraussetzung für diese grundsätzlich mitleidvolle Sicht ist im Grunde unsere gegenwärtige geordnete und mitleidvolle postchristliche Wohlstandsgesellschaft. Doch was ist mit Menschen, die ihrer Würde selbst nicht bewusst sind, weil keiner Mitleid mit ihnen hat und die abgelehnt werden, z.B. weil sie den Gestaltungsrahmen der Selbstbewussten finanziell und zeitlich einschränken?
  • Kann sich ein Mensch Würde zusprechen, wenn ihn alle entwürdigen? Diese Sicht klammert zudem ethische Grundlagen: Egoismus, Hedonismus, Utilitarismus aus. Ist also unrealistisch. Der Aspekt, der für sie spricht, ist die Entdeckung der Spiegelneuronen. Diese werden zurzeit erforscht – aber man erkennt, dass diese „Spiegel“ auch verfinstern können: Menschen – laienhaft gesagt – können ihre ursprünglich mitleidsvolle „Spiegelneuronen“ durch Egoismus usw. zerstören.
  • Kritik an 2.: Führt ein Diskurs jemals zu einem Ergebnis? Wer setzt fest, wann das Ergebnis erreicht wurde? Kann nach einer Festsetzung nicht sofort wieder eine neue Diskursphase beginnen, weil eine neue Idee, eine neue Generation Weiteres bestimmt?
  • Kritik an 3.: Ein Festschreiben des status quo / des Vorliegenden entspricht nicht menschlichem Verhalten. Und: Manche sehen Rückschritte als Fortschritte an. Auch Erreichtes muss ständig neu erkämpft werden. Zudem: Bürgerrechte regeln nur das Verhältnis zwischen Bürger und Staat – nicht aber die zwischenmenschlichen Verhaltensweisen. Nicht allein der Staat kann entwürdigen, sondern Entwürdigungen finden vielfach auch zwischen Menschen im Alltag statt.
  • In der Philosophie gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Werte-Subjektivisten und Werte-Objektivisten. Werte-Objektivisten sagen, dass es Werte gibt, die wir noch nicht begründen können, aber fest, objektiv, vorhanden sind, zum Beispiel Nächstenliebe. Werte-Subjektivisten sagen hingegen, es gibt keine grundlegenden, objektiven Werte, sie sind immer individuelle bzw. kulturell bedingte Sichtweisen. Eine mittlere Position meint, dass man Werte mit Hilfe der Naturwissenschaften logisch entwickeln müsse.
  • Kritik an 4.: Es geht im Grunde nicht um die Frage der Würde. Es geht nur noch darum, dass man als Egoist dazu gedrängt wird, anderen zu helfen, damit man im Notfall Hilfe bekommt. Das ist ein raffiniert Ansatz, um eine Art Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen.
  • Kritik an 5. wird aus den verschiedenen Perspektiven geäußert, die das Individuum betonen. Das Individuum hat Würde – auch entgegen den Vorstellungen der Gruppe.
  • Kritik an 6.: Dieses wird kritisiert, weil durch eine solche Diskussion die Würde selbst relativiert wird.

c) Präambeln: Charta der Vereinten Nationen 1945 (I) und Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) (II) und Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (III), Unabhängkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 (IV)

(I)  „… unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, …“

(II) „Da die Anerkennung der angeborenen Würde (sanctity wurde durch dignity ersetzt) und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet…

(III) „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Dazu siehe auch: https://evangelische-religion.de/ReligionNeu/mensch/menschenrechte-1/

Bemerkung:

Dieser Satz (I und III) greift das Naturrecht auf, wird aber jüdisch-christlich interpretiert. Denn: Wer sagt, dass dem so ist? Es wird behauptet. Das heißt: Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist Folge der jüdisch-christlichen Tradition in Fortführung durch die Moderne. Darum stimmen in der Gegenwart andere Kulturkreise dem dort Niedergelegten nicht mehr so ohne weiteres zu. Man rührt aber nicht an dem Problem, sonst würde die Welt politisch noch mehr zerfallen. Anders ist (II) zu beurteilen. Hier wird vermutlich die Beobachtung wiedergegeben, dass es Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden nur gibt, wenn man die Würde aller beachtet. Es handelt sich um eine Art Klugheitsregel. Übrigens gilt die Würde Ungeborenen nicht! Erst der geborene Mensch hat Würde.

(IV) Die Aussagen der UN greifen modifiziert die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 auf: „Wir halten diese Wahrheit für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und Bestreben nach Glückseligkeit.“ Hieran kann man schön sehen, wie der säkulare Mensch Traditionen aufgreift, die im christlichen Glauben verwurzelt sind, aber dann diese Tradition leugnet – und vielfach auch so tut, als seien die Aussagen Ergebnis moderner atheistischer Aufklärung.

d) Deutsches Grundgesetz Artikel 1 Absatz 1 (Mai 1949)

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes: „Jeder besitzt (Menschenwürde), ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen und geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch `unwürdiges´ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ Warum dem so ist, kann nicht hinterfragt werden: Dem ist so. Menschenwürde wird absolut gesetzt, ohne dass gesagt wird, was eigentlich geschützt werden muss.

Bemerkung:

  • Die Frage ist: Was ist unter „unantastbar“ zu verstehen: (a) Wesenswürde – weil sie dem Menschen zu eigen ist oder (b) Gestaltungswürde, das heißt, der Staat muss dem Individuum ein Leben ermöglichen, das ein selbst gestaltetes Leben in Würde garantiert ist.
  • Die Würde des Menschen (a) kann nicht angetastet werden bzw. (b) darf nicht angetastet werden.
  • Das Bundesverfassungsgericht definiert nicht, was Würde ist. Darum muss es von Fall zu Fall entscheiden, wenn einer wegen vermeintlicher Verletzung seiner Würde klagt.

4. Christliches Verständnis von Würde in der Gegenwart auf der Basis der Bibel/Jesus und der letzten 2000 Jahre

Würde findet ihre Letztbegründung in Gott, seiner Erschaffung des Menschen, dass er ihn durch die Sendung Jesu Christi würdigt und mit seinem Geist beschenkt.

  • Würde ist ein Geheimnis, der Mensch ist nicht in der Lage, Würde zu definieren. Wie der Mensch sich selbst nicht definieren kann, sich damit auch nicht vollständig in den Griff bekommen kann, so ist auch das Wort „Würde“ nicht einzugrenzen. Der Mensch ist nicht am Vorfindlichen in seinem Wesen erkennbar, an seinen Eigenschaften. Nicht innerweltliche Maßstäbe genügen, um seine Würde zu definieren – Definitionen würden ausgrenzen, begrenzen.
  • Erfahrungen der Entwürdigungen machen es möglich, sich der „Würde“ inhaltlich anzunähern (Hiob; Jesus).
  • Aus christlicher Perspektive bestimmt Gott die Würde des Menschen. Gott hat den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen (Wesenswürde), er spricht den Menschen an, er beauftragt ihn (Gestaltungswürde). In Jesus sehen wir, dass Gott den Menschen, die von der Gesellschaft entwürdigt werden, Würde gibt, weil ihnen Wesenswürde zukommt – und damit verbunden Gestaltungswürde).
  • Das bedeutet freilich nicht, wie es der christlichen Vorstellung von Würde vorgeworfen wird, dass Würde nur innerhalb der Religion gilt – eine entsprechende Einstellung ist auch in der Kirchengeschichte nicht zu finden. Die Ebenbildlichkeit Gottes (Genesis 1) betrifft die gesamte Menschheit, die Erwählung Israels wird erst später erzählt. Zudem entgrenzt Jesus begrenzte Vorstellungen. Jesus Christus wird in der Frage nach Würde in der Profandarstellung zum Thema Würde meistens übergangen. Dabei ist er von immenser Bedeutung: s. Ambrosius.
  • Menschen, die leiden, bekommen Würde, selbst der Tod kann die Würde nicht nehmen, weil Gott den Menschen über das irdische Leben hinaus Würde gibt.
  • Gott gibt dem Menschen auch Würde, indem er ihm zutraut, sich sozial verhalten zu können.
  • Von daher ist das Handeln der großen Kirchen gegenwärtig davon bestimmt, sich für die Würde aller Menschen einzusetzen. Ebenso von NGOs, die im wesentlichen christliche Grundlagen hatten/haben.
  • Aus katholischer Sicht hat der Mensch einen Rest Würde beibehalten, als protestantischer Sicht gibt es keinen substantiellen Rest, sondern die Würde ist bestimmt von der Beziehung, die Gott mit dem Menschen knüpft. Würde als Substanz-Begriff und als Relations-Begriff.

Einige weitere Aspekte zum Thema Würde:

  • Neues Testament: Gott ist nicht nur der liebende Gott – im landläufigen Sinn – sondern auch der gerechte Gott. Die Gerechtigkeit Gottes wird von seiner Liebe bestimmt. Von daher ist er auch fordernd, er belohnt und straft. Die Aussagen zur Strafe dienen als Drohung, als Warnung. Dominant ist die Erwartung der Belohnung: Gottes Kind sein, Trost, gestillte Sehnsucht, Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes, Leben in Gottes Reich. Gerechtigkeit Gottes und die Würde des Menschen gehören zusammen, weil Gott in seiner Gerechtigkeit die Entwürdigenden bestraft und die Entwürdigten erhebt.

5. Fazit: Das Gottes- und Menschenbild prägt die Vorstellung von Menschenwürde

Das Gottesbild der Menschen bestimmt auch ihre Vorstellung von Würde bzw. dem würdevollen Umgang mit Menschen.

  • Wird Gott als zorniger, strafender Gott angesehen, so nehmen Menschen diesen Zorn und Bestrafung nicht selten selbst in die Hand.
  • Wird Gott als gleichgültig angesehen, so gehen Menschen mit der Würde des Menschen gleichgültig um.
  • Wird Gott als der Liebende angesehen, wird die Würde von diesem Maßstab aus bestimmt.

Ebenso bestimmt das Menschenbild die Interpretation des Wortes Würde und den Umgang mit anderen Menschen und sich selbst:

  • Ist der Mensch nichts Besonderes, nur Teil der allgemeinen Natur – wird er entsprechend der jeweiligen Würdevorstellung würdig oder entwürdigt behandelt (Kosten, Nutzen).
  • Ist das Individuum nichts Besonderes, kann die Gruppe über das Individuum hinweggehen und auf dessen Kosten Leben (Utilitarismus).
  • Ist der Mensch in seinem Wesen böse, muss er entsprechend eingeengt werden (Gesetze).
  • Ist der Mensch in seinem Wesen gut, muss der „Böse“ umerzogen werden (Erziehungslager).
  • Sieht sich das jeweilige Individuum als groß an, geht es um Lustgewinnung (Vorteile, Karriere…), werden andere klein gemacht, missachtet (Egoismus, Hedonismus).
  • Sieht sich eine Elite als bedeutsamer an als die anderen Menschen, muss die Masse der Bevölkerung durch Nudging verändert werden (Einflussnahme durch psychologische Tricks auf die Menge der Menschen).
  • Ist der Mensch Zufallsprodukt der Evolution, dann kann er verachtet oder wie diese bewundert werden.
  • Ist der Mensch ein Tier unter Tieren, ist er entsprechend zu behandeln – je nach Sichtweise: gut, wenn man tierfreundlich ist, schlecht, wenn man Tiere missachtet.
  • Gruppen können sich über andere Gruppen erheben: Rassismus, Kommunismus, religiöse Arroganz, Reiche, Gebildete, Mächtige stellen sich über andere – es gibt aber auch die Möglichkeit, dass sich Minderheiten über andere stellen bzw. bevorzugt behandelt werden.

Zu diesem Komplex siehe auch: https://evangelische-religion.de/ReligionNeu/kirche/theologie-weg-lern-prozess/

6. Fazit

Dass jeder Mensch gleiche Würde hat, das lässt sich empirisch weder widerlegen noch bestätigen. Naturwissenschaft sagt dazu nichts – kann und darf dazu nichts sagen, wenn sie Wissenschaft bleiben möchte. Das, was wir heute in unserem Kulturkreis als Würde bezeichnen, ist im laufe der Jahrtausende gewachsen. Neben entsprechenden Texten tragen dazu auch die Erniedrigungs- und Unrechtserfahrungen von Menschen und Schriften bei: Hiob, Jeremia, Psalmen, Jesus, nachjesuanische Erfahrungen: Geschichten christlicher Märtyrer usw. Dazu verhalfen auch philosophische Anthropologien, die Gründe für eine solche zu verbalisieren suchten, um sie rechtlich begründet umsetzen zu können. Immer aber berücksichtigend, dass ein ungeklärter Rest bleibt, bleiben muss. Letztlich wurde diese Sicht eine Errungenschaft von uns Menschen, in der sich auch Menschen anderer Kulturkreise wiedererkennen.

7. Literatur

Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Achendorf 2009 (5. Auflage) ergänzt.