Sprache des Glaubens (5): Legenden

Legenden und Mythologie

Zur Sprache der Religion gehören auch Legenden.

Legenden sind Texte, die einen wahren kern haben können, der aber ins Wunderhafte ausgeschmückt wurde. Manchmal ist der Kern kaum mehr erkennbar. Diese Ausschmückungen wiederum sind nicht immer reine Phantasieprodukte. Sie können auch Erlebnisse, Erfahrungen, die Menschen in der jeweiligen Zeit mit anderen Menschen gemacht haben, auf eine legendarische Person projiziert werden. Manche sind „Sagen“haft, manche klingen historisch korrekter.

Legenden erhöhen manchmal eine Person, sie wollen aber auch mehr, und primär etwas anderes sein: Sie dienen der Belehrung, der Erbauung. Es gibt hinduistische Legenden, Buddha-Legenden, Mohammed-Legenden, Heiligenlegenden.

Im Unterschied zu den Legenden ist die Mythologie anders einzuordnen. Die Mythologie behandelt weitgehend das Leben der Götter. Es sind Geschichten, die den familiären und freundschaftlichen Zusammenschluss aber auch die Trennung und Bekämpfung der Götter untereinander behandeln. Ihr religionsgeschichtlicher Hintergrund ist vermutlich unter anderem darin zu sehen, dass Volksgruppen, die die jeweiligen Gottheiten verehrt haben, zusammengewachsen bzw. miteinander befeindet sind.

Manchmal ist eine eindeutige Trennung jedoch nicht möglich, da Gottheiten und Menschen nicht immer überall zu trennen sind bzw. Gottheiten redend und handelnd wie Menschen dargestellt werden. Eine hinduistische Legende besagt zum Beispiel, dass das Königskind / der Gott Krishna als Hirtenkind mit einer Kuhherde aufgewachsen ist. Die Folge dieser Legende: Kühe dürfen nicht geschlachtet werden. Oder – eher eine Mythologie, die den Elefantenkopf-Gott erklären soll – : Shiva und Parvati bekamen einen Sohn. Shiva ging auf Reisen. Als er nach langer Zeit wiederkam und den Sohn nicht erkannte, schlug er ihm den Kopf ab. Als er erfuhr, dass das sein Sohn gewesen war, setzte er ihm den Elefantenkopf auf, weil ein Elefant das erste Lebewesen war, das ihm (bzw. seinen Dienern) begegnet war.

Buddha, der Mensch Siddharta Gautama, so sagt die Legende, soll als Königskind besonders behütet aufgewachsen sein. Nachdem er aus dem Palast ausritt, begegnete ihm das Leiden der Menschen (Greis/Alter, Kranken, Tod, Schmerz) und das verändert sein Leben so sehr, dass er nach einer Zeit massiver Lebensverneinung durch Askese einen Mittelweg gefunden hat. Seine Zeugung wurde auch legendarisch ausgemalt, unter anderem so: Ein Bodhisattva soll der Mutter Maya im Traum als weißer Elefant erschienen sein, berührte ihren Körper und ging in ihren Leib ein. Auf Sure 17,1 beruhen die Himmelfahrt-Legenden Mohammeds. Er soll über eine Leiter von der Kaaba aus in den Himmel geklettert sein, oder von Jerusalem aus mit seinem Pferd gesprungen sein usw. Auch zu seiner Geburt gibt es Legenden (Mawlid/Maulid), so dass ungewöhnliche Dinge geschehen sind (Sternbilder am Hof der Perser wurden zerstört, ein ewiges Feuer erlosch). Ibn Ishak überliefert einige Legenden zur Schwangerschaft der Mutter (Amina bint Wahb) des Mohammed. (Auf die Mutter wird vielfach Sure 9,113f. bezogen.)

Auch von dem Jesuskind gibt es zahlreiche Legenden. In diesen wird zum Teil das spätere Leben schon in die Kindheit verlegt. Zum Beispiel seine Wundertätigkeit. Das Jesuskind formt kleine Tonvögel. Dann kommt das böse Judaskind und zerstört sie. Der kleine Jesus lässt sich nicht beirren und formt wieder kleine Tonvögel. Als dann der böse Judas wieder kommt, lässt Jesus sie wegfliegen (gesammelt wurden manche von Selma Lagerlöff: Christuslegenden; aufgenommen wurde diese Vogel-Flieg-Legende wie weitere Legenden vom Koran: Sure 3,49 und 5,113). Legendarisches Material wird sich auch in den Abschnitten Matthäus 1 und Lukas 1f. befinden, den Geburtsgeschichten.

Ich möchte mich auf Heiligenlegenden konzentrieren. Es gibt Heiligen-Biographien, die historisch manche interessante Informationen bieten, es gibt Heiligenlegenden, die eben Ausschmückungen im genannten Sinn beinhalten. Die Heiligenlegenden sind im gesamten christlichen Bereich vorhanden. Sie geben das aus Glauben heldenhafte Leben wichtiger Personen wieder bzw. erfundener Personen, in denen heldenhaftes Glaubensleben verschiedenster Menschen zusammengeführt wird.

So gibt es die Legende, dass zum Beispiel der Apostel Judas Thaddäus in Armenien Menschen zum Glauben führte. Legenden berichten, dass er im Bereich Syriens /des Irak Wunder getan und gelehrt hat (Lehre: Nicht zu töten, sondern lebendig zu machen sind wir gekommen) – und wurde dann mit einem anderen Apostel von Zauberern, die ihren Machtverlust rächen wollten, ermordet. Blitze erschlugen die Mörder und der König hat über dem Grab der Leichen eine große Kirche erbaut (Weiteres s.: https://www.heiligenlexikon.de/BiographienJ/Judas_Thaddaeus.html). Das heißt: Mit dieser Legende soll einmal erklärt werden, wie es zu dieser großen Kirche kam; sie soll zum anderen erklären, dass Glaubende keine Angst haben müssen vor Zauberern und Heiden-Priestern; sie zeigt weiterhin an, dass Christen nicht morden. Die Frage stellt sich: War Judas Thaddäus wirklich in der Gegend? Vielleicht. Das lässt sich gegenwärtig nicht mehr klären. Deutlich ist allerdings, dass sich manchmal Kirchen von diesen Menschen seit alter Zeit herleiten. Der Jünger Thomas war mit Blick auf Legendenbildung sehr beliebt. Schon im 3. Jahrhundert sind Thomas-Akten entstanden, die legendarisch sein Wirken betonen – aber er wird so wunderhaft und mächtig dargestellt, dass er selbst als Mensch kaum mehr sichtbar wird. In den Thomas-Akten geht es lehrhaft darum, dass die Welt voller Grausamkeiten steckt, weil sie vom Bösen beherrscht wird. Jesus hat den Bösen besiegt, es liegt nun an dem Menschen, sich Jesus zuzuwenden. Die Menschen, die sich Jesus zuwenden, leben ein Leben in Heiligkeit und besiegen somit auch den Bösen, der die Menschen beherrscht. Und Jesus selbst ist mit ihnen. Von diesem Thomas leiten sich auch die Thomas-Christen aus Indien her. Sie haben den christlichen Glauben angenommen, lange, bevor der Westen dort missionierte: Im Jahr 424 treten sie schon ins Blickfeld. Es wird deutlich, dass trotz des legendarischen Materials ein Kern historischen Ursprungs zu sein scheint.

In unseren Bereichen ist vor allem St. Martin ein Begriff, oder der heilige Christophorus. Zu Christophorus s. https://www.heiligenlexikon.de/BiographienC/Christophorus.htm und zu Sankt Martin (Martin von Tours): https://www.heiligenlexikon.de/BiographienM/Martin_von_Tours.htm und natürlich ist der Heilige Nikolaus weltbekannt: https://www.heiligenlexikon.de/BiographienN/Nikolaus_von_Myra.htm Der Barbarazweig kommt von Sankt Barbara, die allerdings historisch kaum greifbar wird: https://www.heiligenlexikon.de/BiographienB/Barbara.htm Anders die heilige Lucia von Syrakus (Santa Lucia): https://www.heiligenlexikon.de/BiographienL/Lucia.htm

Im 13. Jahrhundert hat Jacobus de Voragine die Legenda aurea verfasst, eine Sammlung von Heiligenlegenden, die in unserer Kultur – auch durch die Kunst – äußerst bedeutsam geworden ist.

In den Legenden ist vielfach narrative Theologie erkennbar, das heißt, dass der Glaube formuliert werden musste und dazu historisierende Geschichten erzählt wurden. Die Fülle der Glaubenserfahrung kann nicht immer logisch-argumentativ dargelegt werden. Manchmal sind Geschichten angemessener, vor allem auch darum, weil sie den in der Zeit der Entstehung lebenden Adressaten einen breiteren Raum geben, den sie mit eigenen Erfahrungen füllen können. Manche Geschichten wirken veraltet, weil dieser Raum heute verschlossen bleibt. Manche Geschichten wirken seit Jahrhunderten intensiv, weil sie grundlegenden menschlichen Erfahrungen Raum zur Entfaltung bieten.

Wenn heute jemand ein Rotkehlchen sieht, kann er sich immer an die Legende aus den Christuslegenden erinnern: Es hat Jesus geholfen, indem es versuchte, sein Leiden zu lindern. Es wollte die Dornen von der Dornenkrone aus Jesu Haut herausziehen. Die Brust wurde mit dem Blut Jesu benetzt, und so hat es dann von Jesus die rote Brust bekommen und ewig behalten. Hier geht es also nicht um eine Menschen-Legende. Es geht um die Frage: Wie hat das graue Rotkehlchen seine rote Brust bekommen. Durch die mitleidsvolle Heldentat des kleinen Vogels.